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Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht in mir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Baker
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Freuden und Leiden, meine Gefahren und meine Wonnen.
    In den langen Kriegen, die das Land während des ganzen sechzehnten Jahrhunderts quälten, entrann ich manchmal der Entdeckung nur um Haaresbreite. Ich versuchte, die List mit der Adoption noch ein- oder zweimal durchzuführen, aber als beide Male mit Blutvergießen endeten, sah ich mich gezwungen, diese Vorgehensweise aufzugeben. Ich entwickelte neue Strategien fürs Überleben, neue Lügen, um mich zu schützen. Dass die Ländereien meiner Ahnen weder zu reich noch zu nahe am Zentrum der Macht lagen, half mir dabei.
    Es half auch, dass meine Soldaten stets gut ausgebildet und gut geführt waren – Nutznießer eines Wissens und einer Gerissenheit, die ich in sechshundert Jahren erworben hatte. Und am allermeisten wahrscheinlich half es, dass ich stets die Seite der Gewinner wählte. Wenn ich das nicht getan hätte, ganz besonders während der letzten schrecklichen Schlachten, hätte ich sicherlich alles verloren.
    Ich sah zu, wie Oda Nobunaga Shogun wurde und die kriegerischen Mönche des Berges Hiei besiegte und damit die Macht der buddhistischen Priesterschaft brach. Ich befand mich auf dem Schlachtfeld, als er die Feuerwaffen einsetzte, die er von den Portugiesen gekauft hatte, die unsere Gestade das erste Mal im Jahre 1542 erreichten. Sie hatten versucht, uns ihren Gott aufzudrängen – wir nahmen stattdessen ihre Kanonen. Viele der Barone im Süden traten zum Christentum über. Ohne Zweifel taten das manche in echtem Glauben. Der Rest tat es, weil sie die Schiffsladungen voll Seide kontrollieren wollten, und die Reichtümer, welche die Barbarenhändler brachten. Die Ausländer intrigierten selbst untereinander, Portugiesen gegen Holländer, Jesuiten gegen Franziskaner, um das Recht, unsere Seelen zu retten, und um uns unseren Reichtum wegzunehmen.
    Als Nobunaga ermordet wurde, kam einer seiner Generale, Hideyoshi war sein Name, an die Macht. Tokugawa Ieyasu, sicher im Schutz der östlichen Provinzen, half seinem Rivalen, die Macht über die aufrührerischen Daimyo zu festigen und zog sie dann nach Hideyoshis Tod an sich.
    Nach Ieyasus Sieg trat eine Art Frieden ein. Es war der Frieden der Verweigerung und der Unterdrückung, der Geheimpolizei und der Hierarchie. Die Ausländer wurden verjagt. Die Anhänger ihres fremden Gottes wurden verfolgt oder getötet. Kein Japaner durfte unter Androhung der Todesstrafe das Land verlassen. Kein Japaner, der es verlassen hatte, durfte je wieder zurückkehren – oder er war des Todes. Kein Bürgerlicher durfte sein Land verlassen, kein Bürgerlicher durfte Waffen tragen.
    Die Aristokratie hatte es leichter. Die beiden Schwerter, die ich in meiner Schärpe trug, berechtigten mich zu vielen Dingen, darunter auch zu dem, von niemandem in Zweifel gestellten Recht, jeden Bürgerlichen niederzumetzeln, der mir nicht den gebührenden Respekt erwies. Wenn man von uns verlangte, ein halbes Jahr am Hof in Edo zu verbringen und unsere Familien während der anderen Hälfte des Jahres als Geiseln dortzulassen, so war das gewiss ein kleiner Preis, den wir den Shogunen bezahlen mussten, deren Politik unsere Privilegien und unseren Wohlstand bewahrten.
    Die Tokugawa-Shogune glaubten, sie könnten Japan in einem Zustand einfrieren, den sie für alle Zeiten beherrschen konnten. Sie glaubten, sie könnten die Zeit anhalten.
    Eine Zeit lang glaubte ich das auch.

27
     
    Dimitri Rossokow ließ das in Leder gebundene Buch sinken. Wie lange hatte er jetzt gelesen, fragte er sich. Wie lange hatten mehr als fünfhundert Jahre gebraucht, um durch die geschriebenen Worte in sein Bewusstsein zu dringen.
    Die winzige Wohnung schien ihm plötzlich noch kleiner, noch bedrückender als je zuvor. Er brauchte den kalten Kuss der Herbstluft, um den Zauber zu brechen, mit dem ihn die Worte, wie es schien, belegt hatten. Brauchte ihn, um wieder klar denken zu können. Immer noch das Tagebuch in der Hand, stand er auf, ging zur Tür und trat nach draußen.
    Am klaren Nachthimmel konnte er sehen, wie die Zeit verstrichen war. Mehr als drei Stunden waren vergangen, seit er das in Papier gewickelte Buch aufgehoben und zu lesen begonnen hatte. Er hüllte sich enger in seinen Mantel und sog die kühle Luft tief in seine Lungen.
    Beinahe tausend Jahre. Wenn das stimmte, was in dem Buch stand, wenn Sadamori Fujiwara immer noch lebte, dann war er beinahe tausend Jahre alt.
    Rossokow schob den Gedanken von sich und ließ die Fragen an sich vorüberziehen, die

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