Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
deren Kanten so scharf wie eine Muramasa-Klinge waren, zum Leben erweckt wurde.
»Hinter den Bergen
Versinkt der Mond,
Wie ich versinken muss.
Aber über den Bergen
Muss der Mond sich wieder erheben,
So wie ich mich erheben muss.
Es gibt kein Rasten.«
Der Schauspieler nahm die letzte Pose ein. Der letzte Trommelschlag tönte. Schweigen erfüllte die Halle.
Dann hob Baron Sadamori die Hände und zwang sie zusammen. Hinter ihm klatschten die Samurai und die Diener. Nur die jüngere Konkubine sah, wie er zusammenzuckte, als seine Handflächen einander berührten.
Dann begann das Festmahl. Sake wurde ausgeschenkt und getrunken, Ehren erwiesen und entgegengenommen. Die Nacht zog sich hin, und zuletzt erhob sich der Bühnendichter, um sich zurückzuziehen.
Er trat vor den Baron, um vor ihm niederzuknien. Sie redeten eine Weile so leise miteinander, dass niemand sie über dem festlichen Lärm hörte.
»Das war eine beeindruckende Vorstellung«, sagte Sadamori, und Hidekane lächelte. »Mich würde interessieren, was das Stück inspiriert hat.«
»Ich danke Euch voll Demut für Eure freundlichen Worte. Ich wäre geehrt, Eure Fragen zu beantworten. Vielleicht könnte der Garten des alten Herrenhauses dafür die richtige Atmosphäre bieten.« Der Vorschlag machte den Baron unruhig, denn der Garten würde verlassen sein, und der Rest des Haushalts würde weder hören noch sehen können, was sich dort zutrug. Dann lächelte er und nickte. Schließlich würde dieser Umstand ebenso zu seinem Vorteil wie zu dem des Dichters gereichen.
Wie langjährige Verschwörer brauchten sie nur wenige Worte. Hidekane verließ den Raum. Eine Weile später zog auch der Baron sich zurück. Zur festgesetzten Zeit trafen sie sich dann im Garten. Die kühle Luft ließ den Atem des Dichters wie eisigen Nebel vor seinem Mund hängen, der Baron hingegen trug nur seinen Seidenkimono und fröstelte dennoch nicht. »Wer bist du?«, fragte er. Seine Stimme war ruhig und leise, aber so kalt wie der Mond, der über ihnen am Himmel stand.
»Ito no Hidekane. Der Fujiwara no Hidekane gewesen wäre, hättet Ihr nicht meinen Vater erschlagen.«
»Dein Vater – falls du behauptest, das Kind von Kozum zu sein – hat mich verraten.«
»Meine Mutter hat mir die wahre Geschichte berichtet. Wie ihr vor fünfzig Jahren zu meinem Vater kamt und ihm angeboten habt, ihn in Eure Familie zu adoptieren, ihm nach Eurem Tod Eure Ländereien zu geben, weil Ihr keine eigenen Kinder hattet. Aber Ihr seid nicht gestorben, weil Ihr ein unnatürlicher Dämon seid. Ihr seid nur weggegangen, und als Ihr zurückkehrtet, habt Ihr meinen Vater und meine Brüder getötet, um die Ehren zurückzunehmen, die Ihr ihnen gewährt hattet. Meine Mutter hatte das Glück, Eurem mörderischen Verrat zu entkommen.«
»Die Frau Eures Vaters war seit zwei Jahren tot, als ich zurückkehrte.«
»Aber die Zofe meines Vaters war nicht tot. Das wusstet Ihr, nicht wahr? Dass sie seine Geliebte war und sein Kind unter dem Herzen trug. Ihr glaubtet nicht, dass sie sich der scheußlichen Dinge erinnern würde, die Ihr ihr antatet, dass sie durch die Träume hindurch den Dämon sehen würde, der Ihr seid.«
»Jetzt erinnere ich mich an sie. Allerdings«, die Stimme des Barons klang jetzt träge und schleppend, »erinnere ich mich nicht an ihre Furcht vor finsteren Träumen. In der Tat schien es, dass sie jede Nacht eifrig und voll Erwartung schlafen ging, parfümiert und willig.«
Einen Augenblick lang zeichnete die Wut sich auf dem Gesicht des Schauspielers ab, aber dann meisterte er sie und fuhr fort, als ob dies auch nur ein Schauspiel wäre und er seinen Text sprechen müsste.
»Als ich älter wurde, konnte sie es sich nicht mehr leisten, mich bei sich zu behalten, also hat sie mich einer vorüberziehenden Schauspielertruppe mitgegeben. Aber sie hatte mir jede Nacht die Geschichte erzählt und mich schwören lassen, sie nicht zu vergessen.«
»Und da bist du nun, ein Meister deiner eigenen Schauspieltruppe. Ein talentierter Stückeschreiber, das gebe ich zu. Obwohl die Geschichte deiner Mutter mehr Dichtung enthielt als dein Spiel. Nein, unterbrich mich nicht. Ich habe heute Abend deine Geschichte erduldet, jetzt musst du meine hören. Ich habe deinen Vater tatsächlich adoptiert und ihm erlaubt, dieses Land zu erben. Aber es gab Bedingungen. Er dürfte es nicht aushungern. Er dürfte dem Namen Fujiwara keine Schande machen. Und wenn ein junger Mann mit dem Familienwappen auf seinem
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