Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
seine Faszination mit dem Tagebuch in all den langen Stunden beiseitegeschoben hatte.
Wer hatte ihm das Buch gebracht? Wer auch immer es gewesen war: Er musste seine wahre Natur kennen. Dass irgendjemand in Banff darüber Bescheid wusste, glaubte er nicht. Leigh hatte, wenn auch nur unbewusst, eindeutig erkennen lassen, dass sie sich nicht an ihn erinnerte.
Hatte Ardeth in irgendeiner Weise Mark Frye ihr wahres Bedürfnis verraten? Sein Verhalten neulich Abend deutete allerdings nicht darauf hin. Wenn er Misstrauen gegenüber Rossokow gehegt hätte, wäre er doch ganz sicherlich nicht alleine und bei Dunkelheit an die Tür seines Rivalen gekommen. Der junge Mann schien auch nicht jemand zu sein, der ein solches Buch besitzen – oder es fälschen konnte.
Konnte es sein, dass jemand siegreich aus dem Machtkampf in dem zerbröckelnden Dale-Imperium hervorgegangen war und die Wahrheit hinter Altheas Wahnsinn entdeckt hatte? Wenn dem so war, dann wäre das Tagebuch eine unnötig subtile und zugleich auch gefährliche List. Es würde doch sicherlich viel mehr Sinn ergeben, ihn einfach zu überraschen, als ihn so vor möglicher Gefahr zu warnen.
War das Tagebuch echt oder gefälscht? Wenn es eine Fälschung war, dann eine höchst beeindruckende. Aber wenn jemand wirklich das Tagebuch des Vampirs gefälscht hätte, um ihm zu signalisieren, dass man über ihn Bescheid wusste, warum hätte er dann einen Vampir aus einer der seinen so fernen Kultur gewählt? Weil er in einer solchen Geschichte nicht so leicht historische Unzulänglichkeiten feststellen würde, als in einer Geschichte, die in Europa spielte? Er musste zugeben, dass er nicht mehr über die Geschichte Japans wusste, als die Zeitungen dieses Jahrhunderts und die des letzten geschrieben hatten.
Wenn aber eine Fälschung des Tagebuchs keinen Sinn ergab, dann war daraus zu folgern, dass es echt sein musste. Der Vampir war ein großes Risiko eingegangen, eines, für das Rossokow selbst nie den Mut besessen hätte. Die dunkelsten Geheimnisse seiner Existenz Papier anzuvertrauen …
Wer auch immer es geschrieben hat, war ein Wissender, dachte er mit einem Frösteln, das nichts mit der Kälte zu tun hatte. Wer auch immer es geschrieben hatte, begriff die schreckliche Schönheit und das ungeheuere Böse, die widersprüchlichen Triebe nach Leben und Tod, so wie der Schauspieler Hidekane es begriffen hatte.
Rossokow blickte zum Mond auf. Die Worte kamen zu ihm zurück, geflüstert drangen sie in sein Bewusstsein, in einer seltsamen Kombination aus Englisch, seiner halbvergessenen Muttersprache, und einer unbekannten orientalischen Sprache:
Der Mond muss wieder aufsteigen,
So wie ich mich erheben muss.
Es gibt keine Rast.
Er wandte den Blick vom Himmel ab und zwang sich, die stille Seitengasse und die schattigen Höfe sowie Gärten zu mustern, die ihn umgaben. Wenn er akzeptierte, dass Sadamori Fujiwara ein Vampir war, was hatte das dann zu bedeuten? Automatisch anzunehmen, dass er ihm nichts Böses wollte, wäre unsinnig. Rossokow erinnerte sich an die Nacht, in der er Jean-Pierre kennengelernt hatte, und wie sie einander erprobt hatten. Er erinnerte sich an den Kampf um die Oberhand, der schließlich mit ihrer Freundschaft geendet hatte. Es war möglich, dass er und Ardeth, ohne es zu wissen, in das Territorium dieses Vampirs eingedrungen waren, und dass das Tagebuch seine Warnung an sie war.
Aber konnte ein Feind denn daran interessiert sein, dass sein Leben und seine Geheimnisse einem Widersacher offenbart wurden? Wenn Fujiwara tatsächlich diese Stadt für sich beanspruchte, dann gab es doch ganz sicherlich weniger intime Methoden, um diese Botschaft zu übermitteln. Wenn das Tagebuch ein genaues Porträt war, dann schien ihm Fujiwara nicht die Art von Vampir, die seinesgleichen fürchtete. Durch seine Geschichten zog sich zwar eine Strömung von rücksichtslosem Pragmatismus, aber sie deuteten nicht an, dass er ohne Grund gewalttätig handeln würde.
In den Worten, die Rossokow gelesen hatte, konnte er nichts finden, das darauf hindeutete, dass Fujiwara ihm Böses wollte. Vielleicht hatte man ihm das Tagebuch nicht geschickt, um einen Eindringling zu vertreiben, sondern um die Bekanntschaft mit einem Freund herzustellen.
Rossokow runzelte unbewusst die Stirn. Er musste zugeben, dass er den Mann mochte, den die Seiten des Tagebuchs beschrieben. Sadamori Fujiwara war von faszinierendem Witz und einer offenen, ja zynischen Ehrlichkeit, selbst wenn sie in
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