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Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht in mir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Baker
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List und Verschlagenheit gehüllt war. Jede Geschichte jede Bemerkung, die Rossokow gelesen hatte, steigerte seinen Wunsch, die Bekanntschaft des Verfassers zu machen.
    Und es gab da auch noch einen anderen Grund, der über die Aussicht auf Witz und Intelligenz hinausging, gestand er sich ein. Wenn Fujiwara fast tausend Jahre überlebt hatte, dann hatte der alte Vampir sicherlich die Antwort auf manche der Probleme gefunden, die in allerjüngster Zeit Ardeth und ihn auseinandergerissen hatten und ihn selbst in Zweifel und Niedergeschlagenheit verstrickt hatten.
    Ihm muss ich wie ein Kind erscheinen, wurde Rossokow plötzlich bewusst. So wie Ardeth mir. Plötzlich überkam ihn eine Welle der Sehnsucht. Für den Vampir, der ihn erschaffen hatte, war er Opfer, Liebhaber und schließlich verräterischer Todesengel gewesen. Für Jean-Pierre hatte er nur ein älterer Bruder sein können – selbst als sie beide in den Salons von Paris ein verrücktes Risiko nach dem anderen eingegangen waren. Für Ardeth war er ein gescheiterter Vater, ein gescheiterter Liebhaber. Für Fujiwara, der so viel älter und ganz sicherlich so viel weiser war als er, konnte er etwas anderes sein. Zum ersten Mal würde er vielleicht die Verantwortung abgeben können. Er würde lernen können, statt zu lehren.
    Er könnte Sohn sein, statt Vater.
    Zitternd lehnte er sich an das Geländer der Veranda und starrte das Buch an, das er in der Hand hielt. Wirf es weg, drängte ihn eine innere Stimme. Wirf es weg, ehe du dich zu sehr nach allem sehnst, was es dir verspricht. Wirf es weg, ehe es dich zerstört.
    Oder bevor du ihn zerstörst, so wie du jeden anderen Vampir zerstört hast, dem du je begegnet bist.
    Das Leder fühlte sich in seiner Hand weich und warm an. Er schlug das Buch langsam auf. Nur noch ein wenig mehr, sagte er sich. Es muss einen Grund dafür geben, dass das hier existiert. Und diesen Grund werde ich nie erkennen, wenn ich nicht noch ein bisschen weiterlese. Die krakelige und doch so schöne Schrift zog ihn erneut in ihren Bann.
    Ohne auf die Kühle der Nacht zu achten, setzte er sich auf die oberste Stufe und begann, im Licht der hellen Mondscheibe, die hoch über seinem Kopf stand, zu lesen.

28
     
    Ein Traum vom Tod
     
    Es brennt. Ich fühle die Hitze, die von dem Feuer ausgeht – sie weht hinter mir in dem engen Tunnel heran, durch den ich gerannt bin. Ich weiß, dass es mich im nächsten Augenblick einholen wird. Dann wird mein Blut kochen, meine Knochen schmelzen, meine Haut verkokeln und sich auflösen. Und wenn es vorbei ist, wird keine Asche und kein Ruß zurückbleiben. Es wird keine Spur geben, dass ich je existiert habe. In der Sekunde, bevor es mich erreicht, schreie ich.
     
    Ich erwachte.
    Einen Augenblick lang wusste ich nicht genau, wo ich mich befand. Mein Körper schwankte unsicher in der Finsternis. Einen wahnsinnigen Augenblick lang dachte ich, ich befände mich auf See, und wäre beinahe in Panik geraten. Dann erinnerte ich mich wieder. Ich saß in meiner Sänfte auf der Straße nördlich von Edo und war unterwegs zu meinem Besitz.
    Ich schickte meine Sinne aus und tastete nach dem Bewusstsein jener, die mich umgaben. Aus ihren schattenhaften Gedanken konnte ich erkennen, dass es dämmerte. Die Sonne versank gerade hinter den Bergen im Westen, die Schatten waren lang und hießen mich willkommen. Ich konnte ohne Gefahr die schwer gefütterten Brokatvorhänge zurückziehen, die mich schützten, konnte hinaustreten und mich in der Nacht umsehen.
    Aber ich blieb, wo ich war. Ich brauchte nicht nachzusehen, um zu wissen, wie unsere Prozession aussah: Samurais zu Pferde, die vor und hinter mir ritten, Soldaten, die vor und hinter diesen marschierten, und Träger, gebeugt unter der Last ihrer Bürde.
    Zweimal im Jahr zog die Prozession über diese Straße. Im Frühling nach Edo. Im Herbst zurück auf den Besitz. Der Shogun vertraute den Baronen des Nordens mehr im Winter, wenn der Schnee unsere Bergpässe schloss und damit unsere Armeen in unseren eigenen Ländereien festhielt. Im Sommer zog er es vor, dass wir uns an seinem Hof aufhielten, fern von unseren Burgen und Armeen.
    Eigentlich sollte es eine Erleichterung sein, zu meinen eigenen vier Wänden zurückzukehren. Edo war für mich gefährlich. Es gab überall Spione, und ich hatte mehr Mühe, meine besonderen Eigenheiten zu verbergen. Ich ließ zu, dass man mich für einen Gelehrten hielt – einen, der den esoterischeren, buddhistischen Glaubenssätzen anhing

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