Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
Bühne, um den Schauspielern ein Zeichen zu geben. Die beiden Musiker traten von der Seite auf die Bühne und nahmen, gefolgt vom Chor, der neben ihnen vor dem Bühnenhintergrund niederkniete, ihre Plätze ein.
Die Flöte begann ihr klagendes Lied, und gleich darauf fiel der langsame Herzschlag der Trommel ein. Geflüsterte Gespräche verstummten, Seide raschelte, als die Zuhörer sich zurechtsetzten, um einen guten Blick auf das Geschehen zu haben. Ein Schauspieler, als reisender Priester verkleidet, trat mit präzisen Schritten wie in einem Ritual auf die Bühne.
»Über kalte und ferne Straßen
Aus den Bergen des Nordens,
Über kalte und ferne Straßen
Aus den Bergen des Nordens
Ziehe ich auf meinem Weg zu
Dem geheiligten Schrein der Ise.«
Sadamori sah zu, wie das Drama auf altehrwürdige Weise seinen Anfang nahm. Die Truppe scheint wirklich gut zu sein, dachte er, als der Chor im Echo die Worte des Priesters nachsprach und dann die Schilderung der kalten, mühsamen Reise ausschmückte. Hidekanes poetische Bilder waren schön … und doch verbarg sich unter ihnen etwas Scharfes wie in den Schnee eingebettetes Eis.
Der zweite Schauspieler war auf die Bühne getreten. Er trug Kostüm und Maske eines alten Mannes und trat auf den Priester zu, als dieser sich anschickte, die Nacht in einem verlassenen Haus zu verbringen.
»Der Mond geht auf.
Aber noch ist nicht genug Licht,
Die Nacht hat mich in ihrem Bann,
Und der Nebel bedeckt meine Augen.
Warum sonst sollte ich hier wandern,
Suchen, was verloren ist?
Ich kann meinen Weg nach Hause nicht finden,
Ich kann nicht ruhen.«
Während der Priester und der alte Mann ihren Text sprachen, gewann die Geschichte des Letzteren allmählich Gestalt. Er suchte in der Dunkelheit der Nacht nach seinen Söhnen oder ihren Geistern. Manchmal sprach er zu dem jungen Priester, manchmal zur Luft, manchmal zu einem Wesen, das nur er spüren konnte. Die Stimme und die Bewegungen des Schauspielers waren kontrolliert und präzise, ein vollkommener Ausdruck von Alter und Verzweiflung. Und doch war da hinter der stilisierten Maske und den ritualisierten Bewegungen mehr. Es war der Verfasser des Stückes selbst, Hidekane, der die Rolle verkörperte. Bei dem Gedanken durchfuhr es Sadamori eisig, als er auf seinen seidenen Kissen saß, neben sich seine Konkubinen und hinter sich seine Samurai.
Der leidgeprüfte alte Mann schritt, begleitet von den klagenden Versen des Chores, von der Bühne. Der Kyogen nahm seine Stelle ein und gab sich als Dorfbewohner zu erkennen, der vom Gebet am Schrein zurückkehrte. Wie es seiner Funktion gemäß war, enthüllte er die wahre Geschichte: Der alte Mann war ebenso ein Geist wie die Söhne, die er suchte. Alle waren in einem schrecklichen Feuer umgekommen, das vor hundert Jahren ihr Heim vernichtet hatte. Aber die Dorfbewohner glaubten, dass sie vor dem Feuer von einem Dämon erschlagen worden waren und dass das die Ursache für den unruhigen Geist des Mannes war.
Während der Priester um den Frieden des alten Mannes betete, klagte die Flöte, und der Schlag der Trommel wurde lauter. Unter den Zuhörern hustete jemand. Die jüngere der beiden Konkubinen schaute ihren Gebieter an und sah, dass sein Gesicht so weiß und reglos wie das einer Leiche war. Sie senkte den Blick, und ihr Fächer bebte in ihrer Hand.
Jetzt kam der Verfasser des Stückes wieder hinter dem Vorhang hervor, diesmal in der Maske eines Dämons. Ein Murmeln und Stöhnen ging durch die Zuschauer … denn die Maske des Dämons war furchterregend und kam unerwartet. Eine Hälfte davon war verzerrt und grausig anzusehen, mit scharf gezeichneten roten Brauen und einem krummen schwarzen Mund. Die andere Hälfte war die eines Fürsten, rein und gut aussehend.
Die kehlige Stimme des Dämons tönte:
»Ich bin wahrhaftig verflucht,
Voll Hass für das,
Was auf Erden lebt
Wie ich nicht,
Wahrhaftig, ich bin hungrig
Nach den Seelen jener,
Die sterben und dahinziehen,
Die sich dem Rad anschließen
Wie ich nicht.«
Im flackernden Fackelschein wurde die Maske das Bild einer geteilten Seele. Auf der Bühne inmitten des ganzen Rituals und der Kunst war kein Schauspieler, kein Vortrag. Da war nur das Ding selbst, die reine Demonstration einer dämonischen Macht – unsterblich, mordend und verzweifelt. Etwas, das sich an das Leben klammerte und sich nach dem Tod sehnte. Da war Böses, und da war Schmerz.
Vor der Bühne sah der untote Baron von Fujiwara zu, wie sein Geheimnis mit Worten,
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