Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
Sommer, in dem er vierzehn geworden war. Er hatte damals, wenn er nicht mit seinen Aufgaben beschäftigt gewesen war, in der Nudelküche seines Vaters gearbeitet.
Damals habe ich ihn das erste Mal gesehen, dachte er und starrte in sein Glas, ohne es jedoch wahrzunehmen. Fujiwara kam in das Lokal, mein Vater verbeugte sich vor ihm und gab ihm den besten Tisch, den wir hatten. Er und seine Männer mussten nichts bezahlen, darauf bestand mein Vater. Seine Männer waren auffällig gekleidet – schwarze Anzüge, weiße Krawatten. Einigen von ihnen fehlten Finger. Er selbst verhielt sich in seinem teuren, von Hand geschneiderten Anzug und dem weißen Hemd ganz ruhig und zurückhaltend. Vater ließ mich beim Bedienen helfen, und ich sah, wie Fujiwara mich bei der Arbeit beobachtete. Ich erinnere mich noch daran, wie mein Gesicht brannte, als mein Vater mit mir prahlte: »Mein Sohn arbeitet sehr hart und studiert genauso hart. Er wird auf die Universität gehen. « Wahrscheinlich würde ich das, dachte ich damals. Mein Vater und meine Mutter rechneten damit. Aber ich musste mich unwillkürlich fragen, ob diese Gangster, die so selbstsicher und wohlhabend aussahen, die Universität besucht hatten. Und dann fragte ich mich, ob er auf der Universität gewesen war.
Als sie gegangen waren, fragte ich meinen Vater, wer diese Männer waren. Fujiwara-san, erklärte mein Vater. Oyabun der Makato-gumi Yakuza . Seine Anwesenheit war eine Ehre für uns, versicherte er mir, obwohl ich mich daran erinnerte, wie er die Schutzgelder verfluchte, die er derselben Organisation bezahlen musste.
Ein Jahr später waren sein Vater und seine Mutter tot, in dem Feuer umgekommen, das die Nudelküche zerstörte. Alles Schutzgeld in der Welt konnte nicht verhindern, dass ein Funke sich entzündete oder das Holz Feuer fing. Als er in den rauchenden Überresten stand und die Zähne zusammenbiss, um nicht in Tränen auszubrechen, schob ihm jemand eine Karte in seine schlaffe Hand. Als er wieder klar genug denken konnte, um sie anzusehen, sah er das Wappen und den Namen.
Von dem Augenblick an waren Fujiwara Sadamori und die Makato-gumi seine Familie geworden. Er hatte die Universität mit dem Geld besucht, das er mit seiner Mitarbeit in ihrem Schutz-, Glücksspiel- und Prostitutionsunternehmen verdient hatte. Die Makato-gumi hatte ihn nach Harvard geschickt, damit er dort als MBA graduierte, um ihnen dann zu helfen, ihr schmutziges Geld in sauberen Geschäften zu waschen und ihren Zugriff über Japan und den Osten hinaus auszudehnen. Er wurde nicht als Schläger ausgebildet, wenn man ihm auch beibrachte, auf ein Dutzend Arten zu töten. Er wurde zu einem raffinierten Geschäftsmann ausgebildet. Die älteren Kobun hätten es möglicherweise nicht gebilligt, dass ein junger Mann einen so schnellen Aufstieg vollzog, aber sie verbeugten sich vor den Befehlen des Oyabun und steckten ihren Anteil der wachsenden Profite der Organisation ein, ohne sich zu beklagen. Als er dreißig Jahre alt geworden war, war er derjenige von Fujiwaras Mitarbeitern, der sein höchstes Vertrauen genoss.
So viel Vertrauen, dass er seinen Oyabun so kennenlernen durfte, wie keiner der anderen Yakuza. So vertraut, dass man ihm erklärte, weshalb er etwas tun solle, anstatt ihm einfach nur Befehle zu erteilen. So vertraut, dass ihm mehr und mehr Verantwortung übertragen wurde, während Fujiwara anfing, sich aus den alltäglichen Geschäften der Organisation zurückzuziehen. So vertraut, dass er viel Zeit mit Fujiwara verbrachte, um von ihm selbst zu lernen, und manchmal aus keinem anderen Grund als dem, dass jeder die Gesellschaft des anderen schätzte.
So vertraut, dass er sein Anwesen in den Bergen aufsuchen durfte, dachte Yamagata mit einem leichten Anflug von Bitterkeit. So vertraut, dass man ihm erlaubte, herauszufinden – auf subtile, feine Art – was der Oyabun wirklich war. Zwischen ihnen fiel nie ein Wort darüber. Fujiwara zeigte ihm die alten Porträts auf antiken Pergamentrollen. Er ließ ihn Gedichte lesen, die vor sechshundert Jahren mit erschütternd vertrauter Handschrift verfasst worden waren. Und dann, eines Nachts, hatte er ihn aus den Schatten heraus den Augenblick miterleben lassen, wo Akiko ihr Handgelenk hob und Fujiwara ihr Blut trank.
Mit einem Schaudern zwang er sich in die Gegenwart zurück, in die lärmende Bar und zu seinem ungelösten Dilemma.
Das Sicherste wäre, jetzt erst einmal abzuwarten … Aber er war nicht zu dem geworden, was er jetzt
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