Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
darstellte, indem er sich auf das Sicherste beschränkt hatte. Er war überzeugt, dass dies die Eigenschaft war, die der Oyabun am meisten an ihm schätzte: dass er nämlich nicht immer das tat, was von ihm erwartet wurde. Wenn ihn das zu einem Außenseiter, einem Verräter machte, dann war das eben so. Er hatte seinen Weg eingeschlagen und würde ihn weitergehen – seit dem Augenblick, wo er die Filmaufnahme der zerfetzten Kehle eines Mädchens und den blutigen Mund eines Mannes gesehen hatte.
Der Gedanke war auf seltsame Weise tröstlich, als ob ein Schicksal, an das er nicht glaubte, seine Handlungen bestimmt hätte und er sie bloß auszuführen brauchte.
Er zog das Handy aus der Tasche und wählte die Ziffernfolge, die ihn mit den eine halbe Welt entfernten Büros der Makato verband. Jemand dort würde wissen, wo Fujiwara sich aufhielt. Kojima oder einer der anderen würde es ihm sicherlich sagen.
Schließlich war er Fujiwaras Vertrauter. Er war Fujiwaras Erbe.
31
Die Welt war zu einem Ende gelangt.
Einmal hatte ich geträumt, im Feuer zu sterben. Ich dachte, diese Prophezeiung sei für Tomoe bestimmt gewesen, aber damit lag ich falsch. Sie war für mich bestimmt. Für jeden.
Ich sitze hier in der Finsternis, im Schutz dieses zerstörten Hauses. Ich weiß, dass es jetzt Nacht ist, obwohl der Himmel, den ich durch die auseinandergefallenen Bretter über mir sehe, nicht anders, nicht dunkler scheint, als er den ganzen Tag über war.
Viele Jahre sind verstrichen, seit ich mich ohne Umhang und ohne Schutz im Tageslicht aufhielt.
Ich habe erneut Blut erbrochen. Die schwarzen Spritzer auf der grauen Asche, die den Boden bedeckt, haben geheimnisvolle Muster erzeugt. Ich hoffe, dass meine Krankheit nur einem Schock zuzuschreiben ist.
Ich kam hierher, um zu entfliehen. Jetzt amüsiert mich der Gedanke daran. Ich floh vor den Feuern und den Bombenangriffen auf Tokio und aus den Ruinen meines Reiches, so klein es auch gewesen sein mochte. Der Krieg hatte mir beinahe alles genommen. Er hatte Toru, meinen vertrauten, sterblichen Helfer, dahingerafft. Sogar meine Ländereien hatte er mir genommen. Nur hier, an diesem einen Ort, hatte ich Interessen, die noch unberührt waren. Und so zog ich vorsichtig quer durch das Land meiner Wege.
Die Stadt war von den Bombenangriffen so stark beschädigt worden, dass es mir keine Schwierigkeiten bereitete, in einem halbzerfallenen Gebäude Unterschlupf zu finden. Unter den aufgetürmten Schuttresten fand ich eine Zuflucht, einen Ort, wo ich den Tag verschlafen konnte. Wahrscheinlich hätte ich entdeckt werden können, aber eigentümlicherweise zog ich jenes Risiko der Mühe vor, ein Gasthaus zu finden, wo ich ungestört ruhen konnte. Schließlich schlief ich ein, den Kopf voll Pläne für den nächsten Tag.
Das heftige Zucken der Erde weckte mich.
Ein Erdbeben. Das war mein erster wirrer Gedanke. Ich hob den Kopf, immer noch halb benommen vom Schlaf, und dann traf etwas auf meine Schulter. Der Schutthaufen über mir stöhnte kurz und schien dann seine Lage zu verändern. Staub rieselte auf meine Augenlider herab, und ich hatte kaum mehr Zeit, meinen Kopf mit den Armen zu schützen, ehe mein ganzes Versteck über mir zusammenbrach.
Seltsamerweise schlief ich wieder. Meine Müdigkeit, die durch den Umstand noch verstärkt wurde, dass ich seit einigen Tagen keine Nahrung mehr zu mir genommen hatte, war so groß, dass selbst die seltsame Zerstörung meiner Höhle mich nicht beunruhigte. Der Schutt, der auf mich herunterfiel, betäubte mich halb, richtete aber keinen ernsthaften Schaden an, und ich fühlte mich sogar auf eigentümliche Weise davon geschützt.
Ich weiß nicht, was mich das nächste Mal weckte, aber ich wusste instinktiv, dass nur wenige Stunden verstrichen waren. Auf Erdbeben folgten oft Feuer, wie ich aus schmerzlicher Erinnerung wusste. Wenn ein Feuer ausgebrochen war, dann war es durchaus möglich, dass es ganz in meiner Nähe brannte. Ich schnüffelte und war mir sicher, selbst in der abgestandenen Luft meines Zufluchtsortes Rauch riechen zu können.
Es dauerte länger, als ich erwartet hatte, aber schließlich hatte ich mich durch all den Schutt nach draußen gearbeitet und spähte durch ein zerbrochenes Brett auf die Welt da draußen.
Es war dunkel. Einen Augenblick lang war mein Bewusstsein voll und ganz von diesem verwirrenden Umstand in Anspruch genommen. Ich blinzelte, aber trotzdem trat kein schmerzhaftes Sonnenlicht an die Stelle der labenden
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