Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
sind unwürdig. Bitte macht meiner Schande ein Ende.«
Einen Augenblick lang wünschte ich mir nichts mehr, als sein Blut in den Boden sickern zu sehen, seinen leblosen Kopf in die Höhe zu heben und aus seinem abgeschnittenen Hals zu trinken. Das Brennen in mir hatte nicht aufgehört, die Flammen hatten sich nur etwas gelegt, aber ich zwang mich, nachzudenken.
»Nein, du hast nicht die Erlaubnis, dich zu töten. Kehr zum Kommandanten zurück und sag ihm, er soll meine Interessen in Edo bewachen. Bewacht die Ruinen meines Hauses. Bewacht das Grab meiner Frau. Ihr habt nicht die Erlaubnis zu sterben.«
Er fing wieder zu betteln an, aber Naomasa war so klug, ihn aus dem Zimmer zu zerren und die Wandschirme zuzuschieben.
Ich dachte an Tomoe, wie sie durch einen Korridor rannte, das Feuer auf den Fersen. Ich dachte an meine Wachträume, die aus Lügen bestanden, und an meine Alpträume im Schlaf, welche die Wahrheit offenbarten.
Selbst in meinem wahnsinnigen Leid handelte ich bedacht. Ich konnte nicht anders. Ich hinterließ einen Brief für Naomasa und übergab ihm die Leitung meiner Armee, so wie ich die Sorge für mein Land in den Händen meines vertrautesten sterblichen Dieners ließ. Aus alter Gewohnheit bereitete ich mich auf eine Zukunft vor, die ich mir nicht einmal mehr ausmalen wollte.
Der Wachposten im Garten sah mich nicht weggehen. In den Bergen würde kühle Dunkelheit die scharlachroten Flammen ersticken. In den Bergen würden ruhelose Diebesbanden auf einen Anführer warten, der blutiger und grausamer war als sie. In den Bergen würde es Blut geben, um den Dämon in meinem neuen Schwert zu tränken und das Feuer in meinem brennenden Herzen zu stillen.
29
Oktober, 1902
Fünfundsiebzig Jahre lang beherrschte meine Bande von Gesetzlosen die Straße. Das war nicht so eindrucksvoll, wie es klingt, denn es war eine relativ unbedeutende Straße. Es war keine Straße wie die Tokaido-Straße, die von Edo nach Kyoto führte, und den Wegelagerern, die an ihr ihr Unwesen trieben, reiche Beute bot. Wir nahmen Adeligen wie Bauern so viel »Wegezoll« ab, wie wir konnten, und ebenso auch der wachsenden Zahl von Kaufleuten, die allmählich mehr Wohlstand angesammelt hatten als die Aristokraten. Es gab genug Gewalt und Profit, um meine Männer und mich zufriedenzustellen.
Die Banditen bestanden aus einem harten, brutalen Haufen. Ihren vorherigen Anführer, den Ronin , hatten sie mit fast abergläubischer Furcht verehrt, die sie bereitwillig auf mich übertrugen, als ich zu ihnen stieß. Sie wussten, dass ich nicht wirklich sterblich war, schienen aber darauf stolz zu sein. Es wurde als Ehre betrachtet, in einen Becher zu bluten und ihn mir anzubieten. Durch solche Gaben und die Banditen, die ich als Strafe für Aufruhr oder Verrat tötete, mangelte es mir nie an Blut. Und doch schlief ich in jenen Jahrzehnten nur leicht, denn ihre Treue und meine Sicherheit währten nur so lange, wie sie mich fürchteten und respektierten.
Mit der Zeit starb allerdings das Feuer in meinem Herzen. Eines Nachts sah ich mich um und musterte meine zerlumpte Schar, die trinkend und Würfel spielend am Feuer saß, und empfand nichts als Ekel und Abscheu. Die komplette ursprüngliche Bande, die ich mit der Zeit zu schätzen gelernt hatte, war mittlerweile gestorben oder hatte mich verlassen. Keiner der neuen Rekruten kannte meinen wahren Namen. Ich entdeckte, dass mir die Geräusche der Stadt, die Berührung von Seide und der süße Duft parfümierter Frauen fehlten. Mir fehlten die subtilen Freuden der Dichtkunst und der Musik. Mir fehlte der Blick von der Veranda meines alten Hauses.
In jener Nacht verließ ich das Lager und kehrte in die Welt zurück – eine Welt, die im Begriff war, den größten Umsturz ihrer Geschichte zu erleben.
1853 segelten die schwarzen Schiffe von Commodore Perry in den Hafen von Nagasaki ein und verlangten, dass die Regierung das Land dem Handel öffnete. Das Zeitalter der Shogune war vorbei.
In den Jahren, die seitdem vergangen sind, scheint mir, dass alles sich gewandelt hat. Wir regieren unser Land wie die Gai-jin . Wir errichten unsere Gebäude, so dass sie wie die ihren aussehen. Wir lernen ihre Wissenschaft, ihre Technik, ihre Sprachen. Alte Männer tuscheln, dass wir unsere Seele an sie verlieren.
Vielleicht tun wir das. Aber ich erinnere mich an die Geschichten über die Zeit vor meiner ersten Geburt, als wir unsere Kultur und unsere Regierung von den großen chinesischen Dynastien
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