Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
paar Meilen weiter die Straße entlang entdeckte ich die Ruinen, in denen ich jetzt sitze. Ein Haufen eingestürzter Steinbrocken und Holz – eine Wiederholung dessen, was wir hinter uns zurückgelassen hatten. Ich glaube nicht, dass sonst jemand in der traurigen Parade sie auch nur zur Kenntnis nahm. Ich hatte die Straße verlassen und schickte mich an, das freie Feld zu überqueren, als ich die eingesunkene Gestalt im Graben bemerkte.
Es war ein Junge, höchstens zehn Jahre alt. Die angekohlten Überreste seiner Schuluniform klebten an seinem dünnen Körper.
Schreckliche Brandwunden bedeckten seine rechte Schulter, den rechten Arm und seine rechte Gesichtshälfte. Aber der Rest seines Körpers schien unversehrt. Trotzdem konnte ich den Tod in ihm fühlen, als ich die Hand auf seine Wange legte.
Er schlug die Augen auf und sah mich glasig an. »Mutter?«
»Schsch, Kind«, machte ich, weil ich das Gefühl hatte, etwas sagen zu müssen, um seine klägliche Frage zu beantworten. Wenn ich ihn im Graben ließ, würde seine Mutter dann vorbeigetrottet kommen und ihn mit Freudenrufen an sich ziehen?
»Sie hat geblutet«, murmelte er. »Über und über Blut, über und über …«
Seine Mutter musste in der ursprünglichen Verwüstung umgekommen sein, entschied ich. Wie leicht es war, das zu entscheiden, einfach zu unterstellen, was in mir die geringste Reue hinterlassen würde. Aber ich entschied mich dennoch für diese Version, ebenso wie ich entschied, dass der Junge sterben würde.
Niemand sagte etwas, als ich mich vorbeugte, um ihn aus dem Schmutz zu heben. Niemand protestierte, als ich mit seinem schlaffen Körper in den Armen über das Feld ging. In düsteren Augenblicken überlege ich mir, dass ich gleich dort im Graben von ihm hätte trinken können, und niemand hätte mich daran gehindert. Was war schon ein weiterer Schrecken nach so vielen anderen? Was ein weiterer Tod?
Der Junge weinte leise, weinte wegen der Schmerzen, die seine Verletzungen ihm bereiteten, als ich ihn im Schatten der Ruinen absetzte. »Hast du gesehen, was passiert ist?«, fragte ich neugierig.
»Da war eine B-29. Ich habe sie oben am Himmel gesehen. Wir haben alle darauf gezeigt. Dann gab es einen großen Lichtblitz, und ich bin umgefallen.«
Der Junge hustete, und dabei rann ihm Blut aus dem Mund. »Ich bin hingefallen.« Er lag einen Augenblick reglos da und sah mich an. »Werde ich sterben?«
»Ja. Ich glaube schon.«
»Das macht mir nichts aus.« Einen Augenblick lang war eine Spur von dem störrischen Trotz in seiner Stimme zu hören, der für kleine Jungen so typisch ist. »Meine Mutter ist tot, alle sind tot. Mir macht das nichts aus.«
Aber das tat es doch, und es zerriss mir das Herz. Ich konnte ihn zur Straße zurücktragen. Ich konnte einen anderen auswählen, um mein Überleben zu sichern. »Willst du, dass ich dich zurückbringe?«, fragte ich, und er schüttelte den Kopf.
Ein neuer Hustenanfall plagte ihn und ließ seinen Körper schaudern. Ich wusste, dass ich ihn nicht zurücktragen würde. Konnte ich mir denn einen anderen suchen, der nicht wie er sein würde, hin- und hergerissen zwischen Leben und Sterben? Die Toten würden mir nichts nützen, trotz ihrer großen Anzahl.
Aber wenn ich auch tun würde, was ich musste, so würde ich es doch mit Güte tun, beschloss ich. Ich würde ihm keine Angst machen, denn er hatte doch an diesem schrecklichen Tag sicherlich schon genug erduldet. Ich würde warten, bis er eingeschlafen war.
Ich zog mein Hemd aus, schob es unter seinen Kopf und setzte mich dann neben ihn. Als er nach seiner Mutter wimmerte, nahm ich seine unverbrannte Hand in die meine und staunte über die Kraft, die noch in seinen dünnen Fingern verweilte. Er trug ein seltsames Fieber in sich und warf sich hin und her und weinte und flüsterte und konnte nicht einschlafen.
Ich konnte den Tod spüren – er lauerte in der zunehmenden Dunkelheit –, und ich wusste, dass er ihn vielleicht packen würde, ehe die Bewusstlosigkeit einsetzte. Zuletzt konnte ich nicht länger warten. Ich kauerte mich über seinen hingestreckten Körper und schob seinen Kopf etwas zur Seite, so dass die unverbrannte Seite seiner Kehle freilag.
Als ich mich über ihn beugte, schlug er die Augen auf und blickte mich an. Ich weiß nicht, was er sah, denn ich glaube nicht, dass ich es war, aber er lächelte. Ich legte meinen Mund an seine Vene und trank.
Wenn ich das morgen ohne Gefahr erledigen kann, dann werde ich seinen
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