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Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht in mir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Baker
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dabei zuzusehen, wie sie litten, vermutete sie und erinnerte sich an seine Reaktion auf ihre Angst vor dem Vampir.
    »Das ist unser Regisseur, Leseur. Er ist ein Genie, wenigstens behauptet er das.« Roias deutete auf einen schmächtigen, hasengesichtigen Mann, der gerade die Kulisse musterte. »Hält sich für einen verdammten Steven Spielberg oder so in der Art.« Roias schien diese Bemerkung ungeheuer witzig zu finden, denn er lachte eine Weile. Ardeth entschied für sich, dass es weniger gefährlich war, nichts zu sagen.
    Sie blickte wieder auf die Kulisse. Trotz der hellen Scheinwerfer ging von ihr vor allem der Eindruck von Verfall aus. Die Tischtücher waren unten ausgefranst und angeschimmelt. Neben den acht Gedecken, die auf dem Tisch angeordnet waren, standen mit einer blassen Flüssigkeit gefüllte Kristallgläser, und sie konnte Spinnweben erkennen, die vom Tischtuch zu den Gläsern führten. Die müssen unecht sein, dachte sie, obwohl der Staub und der Schmutz an den Wänden hinter dem Tisch zweifellos echt waren. Wer auch immer diese Irrenanstalt gebaut hatte, war nicht nur an reiner Funktionalität interessiert gewesen. Die Wandvertäfelung war reich mit Schnitzereien versehen, und ein schwerer Lüster hing zwanzig Fuß von der Decke herab. Auch die religiöse Erbauung der geistesgestörten Patienten war nicht dem Zufall überlassen geblieben. Ein verstaubtes Fresco bedeckte die obere Hälfte der Wand hinter dem Podest. Es handelte sich um eine schlechte Kopie von Michelangelos Abendmahl. Die Proportionen stimmten nicht ganz, so dass der Eindruck entstand, die Köpfe Christi und der Apostel seien zu groß für ihre Körper.
    Einer der Männer, die in der Kulisse herumrannten, kam mit einer großen, zweistöckigen Hochzeitstorte hinter einem Vorhang hervor und stellte sie auf den Tisch. Plötzlich erinnerte die Szene Ardeth an Dickens’ Große Erwartungen. Sie wartete nur darauf, dass die verrückte alte Miss Havisham in ihrem fadenscheinigen Hochzeitskleid erschien.
    Das Kleid war alt, das war nicht zu übersehen, die Seide vergilbt, die Schleppe von Motten zerfressen, aber das Mädchen, das in dem Kleid steckte, war keine alte, mit Rouge herausgeputzte Hexe. Sie war jung, wesentlich jünger als sie selbst, mutmaßte Ardeth, und hübsch. Ihr blondes Haar hing ihr lose bis auf die Schultern, von denen eine entblößt war, der Ausschnitt des Kleides offensichtlich zu groß. Sie war nervös und sichtlich bemüht, es sich nicht anmerken zu lassen. Doch an der Art, wie ihre Hände immer wieder an ihrem Kleid zupften und mit ihrem Haar spielten, war etwas unheilverkündend Fieberhaftes.
    Weitere Schauspieler hatten die Kulisse betreten, allem Anschein nach der Rest der Hochzeitsgesellschaft. Ebenso wie das Kleid der Braut wirkte auch ihre Kleidung seltsam, wie eine Karikatur der traditionellen Gewänder. Die Brautjungfer trug ein blutrotes Kleid, rote, bis zu den Ellbogen reichende Handschuhe und einen Hut mit einem Schleier aus schwarzer Spitze. Hohe schwarze Lederstiefel verschwanden auf Kniehöhe unter den Rüschen des Kleides. Die männlichen Teilnehmer steckten in Smoking oder Frack, aber einer trug dazu kein Hemd, ein anderer Lederhosen. Alle hatten sie schwarze oder rote, mit Juwelen und Federn besetzte Halbmasken auf.
    Ein Mann trat vor die Braut, redete beruhigend auf sie ein. Er war jung, mit blondem, zurückgegeltem Haar und einem grauen Anzug, von dem Ardeth vermutete, dass er in einem der exklusiven Geschäfte von Yorkville Tausende Kanadischer Dollar gekostet haben musste. Das Mädchen lächelte nervös, und er küsste sie langsam. Seine Hand schob sich unter die Falten ihres Seidenkleides zwischen ihre Schenkel. Als er zurücktrat, hatte sich ihr Gesicht gerötet, aber sie lachte.
    »Das ist Greg. Unser Talentscout«, sagte Roias im Plauderton und beugte sich dann zur Seite, um einen Schalter auf dem Armaturenbrett vor seinem Sessel umzulegen. Ein Lautsprecher über ihnen erwachte knisternd zum Leben. Das Summen von Gesprächen erfüllte den Raum. »In diesem Film gibt es nicht viel Dialog, aber es kommen ein paar gute Klangeffekte vor«, erklärte ihr Roias mit einem breiten Grinsen, das – nachdem er sich wieder abgewandt hatte – wie das der Grinsekatze aus Alice im Wunderland vor ihrem geistigen Auge hängen blieb.
    »Alle auf ihre Plätze, fangen wir an. Ihr kennt die Regeln. Nicht auf die Kameras achten, wir werden euch nicht unterbrechen«, sagte Leseur und winkte dann die zwei

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