Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
slawische Backenknochen spannte, einer geraden Nase und einem schmalen Kinn ohne einen Bartschatten. Sein Haar hing ihm lang über Hals, Ohren und in die Stirn. Es war von einem seltsamen Grauton, der nicht der Farbe des Alters entsprach, vielleicht jedoch eines so großen Alters, dass man es nicht mehr erfassen konnte. Er trug ein weißes Hemd und dunkle Hosen, aber der Stoff war abgewetzt und zerschlissen. Seine Füße waren nackt, dennoch schien ihm der kalte Steinboden nichts auszumachen.
Der Vampir verlagerte sein Gewicht und hob seinen Kopf. Ardeth sah schnell weg, voll Angst, sein heißer Blick könne sie erfassen und bannen wie die Schlange das Kaninchen. Sie schloss die Augen und zwang sich, ihn nicht wieder anzusehen.
Einen Augenblick lang war sie beinahe erleichtert, als die Tür sich öffnete und Roias die Treppe heruntereilte. Sein Eintreffen durchbrach wenigstens die schwere Stille und riss sie aus ihrer peinvollen Bewusstheit der Kreatur, die sie zu ignorieren versuchte. Dann sah sie die Erwartung in seinem plötzlichen Grinsen, und ihr Magen verkrampfte sich, während die Angst sich hungrig näher heranschlich.
»Los geht’s, Alexander«, rief er. »Showtime.«
5
»Welche Show?«, fragte Ardeth und trat einen Schritt zurück, dem stummen Vampir einen nervösen Blick zuwerfend. Roias öffnete ihre Zellentür und trat ein.
»Wirst schon sehen. Jetzt dreh dich um.« Als sie gehorchte, riss er ihre Arme nach hinten, und sie spürte das kalte Metall von Handschellen, die um ihre Handgelenke zuschnappten.
»Gehen wir.« Er packte sie am Arm und stieß sie vor sich her aus der Zelle. Da sie dieses Mal keine Augenbinde trug, bereitete ihr die Treppe weniger Schwierigkeiten. Auf der anderen Seite der Eisentür sperrte er sie wieder zu. Wie ein Ritual: zwei Schlösser, zwei Schlüssel. Ardeth registrierte, dass er sie in die vordere Hosentasche steckte. Das sind bis jetzt drei Schlösser, stellte die zynische leise Stimme fest. Denkst du, Wilkens oder Roias werden diese Schlüssel eines Tages zufällig in deiner Zelle fallen lassen?
Roias führte sie den langen Korridor hinunter, auf die Mitte des Gebäudes zu. Kleine Räume mit vergitterten Türen säumten den Gang. »Was ist das hier? Ein Gefängnis?«, wagte Ardeth zu fragen.
»Eine Irrenanstalt. Nicht dass es dich etwas anginge«, antwortete er mit einem warnenden Blick. Ardeth senkte die Augen und hoffte, gebührend eingeschüchtert zu wirken. Sie fühlte sich jedenfalls so. Kurz darauf packte Roias sie wieder am Arm und brachte sie vor einer schweren Tür zum Stehen. Er schloss auch diese Tür auf und stieß sie hinein, ins Dunkle.
Sie blinzelte ein paarmal, bis ihre Augen sich an die schwache Beleuchtung gewöhnt hatten. Sie befanden sich in einem langen, schmalen Raum, der von einem riesigen Fenster beherrscht wurde. Die hintere Wand war mit Regalen voll mit allen möglichen elektronischen Geräten zugestellt: Fernseher, Videorecorder, Kameras und andere Gerätschaften, deren Zweck ihr fremd war. Einige waren eingeschaltet, rote Lichter blitzten rhythmisch. Das Fenster blickte nicht ins Freie, sondern bot Ausblick auf einen großen Saal. Vielleicht der Gemeinschaftsraum der Anstalt, dachte Ardeth, denn der Saal war fast zwei Stockwerke hoch und wenigstens ebenso lang. Im Augenblick gab es dort eine seltsame Ansammlung von Vorhängen, Scheinwerfern und Menschen zu sehen. In der Mitte des Saals hatte man ein Podest aufgebaut. Männer waren damit beschäftigt, verhängte Scheinwerfer davor aufzubauen, die auf einen weiß drapierten Tisch auf dem Podest gerichtet waren.
Eine Filmkulisse, erkannte Ardeth plötzlich. Und die Glasscheibe vor ihr war in Wirklichkeit kein Fenster, sondern ein einseitig durchsichtiger Spiegel. Von diesem Raum aus konnte Roias beobachten, was in dem Saal geschah, ohne selbst gesehen zu werden. Er registrierte ihr plötzliches Begreifen und lächelte. »Nehmen Sie Platz.« Er wies auf einen der Stühle, die vor dem Spiegel aufgestellt worden waren. Sie setzte sich, was ihr einige Mühe bereitete, weil ihre Hände immer noch von den Handschellen hinter ihrem Rücken gehalten wurden. »Ist nicht gerade Hollywood, aber es erfüllt seinen Zweck. Wollten Sie je ins Showgeschäft?«
»Nein«, antwortete Ardeth automatisch, voll Misstrauen gegenüber der Selbstgefälligkeit, die aus seiner Stimme sprach. Was auch immer sie sich hier oben ansehen musste, würde nicht angenehm sein, das wusste sie. Roias genoss es, Leuten
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