Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
unsere Geschichten«, bemerkte Fujiwara mit trockenem Humor. »Einiges kann ich erahnen. Sie sind über Dimitri Rossokow verärgert. Ich weiß nicht, was Sie sich in der Vergangenheit gegenseitig für Wunden zugefügt haben, aber heute Nacht hat es Sie verletzt, dass er von Ihrer Erschaffung sprach, als würde er es bedauern. Und über mich sind Sie auch verärgert. Also haben Sie sich gegen uns beide mit der Waffe aufgelehnt, die Ihnen am schnellsten zur Verfügung stand.«
Es schmerzte sie, ihre Gründe, die ihr doch so kompliziert und eindringlich erschienen waren, in so einfachen Worten zusammengefasst zu hören. Noch mehr schmerzte die Erkenntnis, dass diese einfachen Worte die Wahrheit waren. Der Schmerz ließ ihre Stimme scharf klingen. »Warum sollte ich über Sie verärgert sein?«
»Weil Sie hierhergekommen sind, um Antworten zu finden, und ich keine habe.«
»Nein, die haben Sie nicht«, erwiderte sie offen und drehte sich zu ihm um. Ihr Freimut schien ihm nichts auszumachen.
»Selbst wenn ich – oder Dimitri – solche Antworten besäßen, sollten Sie sich selbst die Frage stellen, ob Sie darauf hören würden, ob sie mehr darauf hören, als Sie auf Ihre Eltern gehört haben, als Sie noch ein kleines Mädchen waren. Es gibt Dinge, die einem nur im Laufe der Zeit gewahr werden können. Sie werden die wahre Kraft unseres Bedürfnisses erst dann erkennen, wenn Sie versuchen, es aufzugeben. Sie werden so lange nicht wahrhaftig wissen, dass Sie nicht sterben werden, bis Sie am Grab Ihrer Schwester und am Grab der Kinder Ihrer Schwester stehen. Selbst jetzt kann ich Ihnen diese Dinge sagen, und Sie werden vielleicht erwidern, dass Sie mir glauben – aber Sie werden sie erst dann als wahr empfinden, wenn Sie sie selbst erleben. An dieser Existenz gibt es kein Geheimnis. Es gibt kein ›Vampirtum‹, das ich Sie lehren kann. Ich bin meinen Weg alleine gegangen, so wie nur ich ihn gehen konnte. Und Sie müssen den Ihren finden.«
»Ich wusste, dass Sie das sagen würden. Die ganze Zeit über wusste ich tief in meinem Herzen, dass Sie genau das sagen würden.«
»Ihr Herz ist weiser, als Ihre Jahre erwarten lassen.«
»Das macht es nicht leichter.«
»Nein«, gab Fujiwara ihr Recht. »Haben Sie eine Unterkunft? « Der abrupte Themenwechsel überraschte sie einen Augenblick lang, dann schüttelte Ardeth den Kopf. Sie hatte keinerlei Pläne gemacht und gestand sich jetzt schmerzlich amüsiert ein, dass etwas in ihr erwartet hatte, in die Wohnung in Banff zurückzukehren. »Dann bleiben Sie doch hier. Ich habe morgen Nacht etwas zu erledigen und würde mich sehr geehrt fühlen, wenn Sie so lange bleiben würden.«
»Was ist das denn, was Sie zu erledigen haben?«, fragte sie, aber er lächelte nur und schüttelte den Kopf.
»Morgen Nacht reicht. Jetzt muss ich gehen und mit Takashi und Dimitri sprechen. Bleiben Sie hier draußen und sehen sich den Mond an.« Er lächelte wieder. »Wenn ich hundert Jahre jünger wäre und Sie eine Sterbliche, dann würde ich jetzt vielleicht bei Ihnen bleiben und ein Gedicht oder zwei verfassen.« Ardeth musste unwillkürlich lachen. Dem Charme zu widerstehen, den dieser Mann fast tausend Jahre lang in sich kultiviert hatte, würde eine stärkere Frau als sie erfordern.
»Ich wette, das haben Sie mit allen Mädchen gemacht.« Fujiwara schmunzelte, und seine Verbeugung, mit der er sich von ihr verabschiedete, war eleganter, als sie je eine Verbeugung gesehen hatte. Dann ließ er sie alleine und überließ es ihr, zu einem Mond aufzublicken, der ihr weder Poesie noch Antworten bot.
37
Sie haben sich jetzt zu ihren unbehaglichen Rückzugsorten begeben. Dimitri Rossokow ist mit meinem Fahrer nach Banff zurückgekehrt. Takashi und meine Männer haben sich zwischen diesem Gebäude und dem anderen unten an der Straße aufgeteilt. Takashi hat das andere gewählt, aber ich bin nicht sicher, ob er damit Ardeth oder mir aus dem Wege gehen will.
Ardeth hat ein Zimmer gefunden, und ich bin überzeugt, dass es nicht dasjenige ist, in dem sie und Takashi mit ihren Träumen und ihrer Rache kämpften.
Dimitri hat mir, ehe er mich verließ, dieses Tagebuch zurückgegeben. Wenn er morgen Nacht zurückkehrt, werde ich es ihm abermals übergeben, konnte aber nicht widerstehen, diesen letzten Eintrag zu verfassen.
Ich verspüre nicht den Wunsch, die Ereignisse dieser Nacht in allen Einzelheiten aufzuzeichnen. Ich fürchte, dann würde entweder ein Melodrama oder eine Komödie daraus
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