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Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht in mir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Baker
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Alltag, seine Einfachheit. Es war sehr leicht, hier zu überleben. Es war ein guter Ort für vorsichtige Männer – brachte sie hervor und belohnte sie. Die Stadt und ich passten gut zusammen.«
    »Das brave Toronto. Wir nennen es immer noch so, mit etwas verlegenem Stolz, glaube ich. Alle unsere Politiker wünschten, wir wären New York, aber ohne all das Verbrechen und den Müll«, sagte Ardeth und erhaschte einen Blick auf sein Halblächeln.
    »New York. Ich bin nie dort gewesen. Ich erinnere mich aber daran, wie die Holländer es den Indianern abkauften.« Jetzt wurde ihr seine Alter erst richtig bewusst, die Tatsache, dass er all die Dinge, von denen sie gelesen und die sie studiert hatte, erlebt und empfunden hatte. Dass die Welten, die sie so sorgsam für Aufsätze und Prüfungen rekonstruiert hatte, Welten waren, in denen er gelebt und geatmet hatte.
    »Erzählen sie mir davon«, sagte sie plötzlich voll Eifer und ebenso verzweifelt, wie er ihr es einmal befohlen hatte. Rossokow sah sie neugierig an. »Erzählen Sie mir, wie die Welt damals war, was Sie gesehen haben. Herrgott, ist Ihnen eigentlich klar, dass die Hälfte aller Historiker der Welt einen Mord dafür begehen würde, mit Ihnen zu reden?« Sie hielt plötzlich inne, und ein harter Kloß bildete sich in ihrem Magen, als ihr klarwurde, was sie gerade gesagt hatte. Würden sie wirklich dafür sterben? Würdest du das?, fragte eine Stimme spöttisch im hintersten Winkel ihres Bewusstseins. Wirst du?
    »Ardeth …« Rossokows Stimme fing sie ein, zerrte sie in die Realität zurück und zwang sie, ihn anzusehen. »Augenzeugenberichte von Vampiren haben keinen großen akademischen Wert, leider. Ich habe mir mehr als einen Vortrag von einem gelehrten Professor anhören müssen, weil ich es wagte, seine Version der Wahrheit infrage zu stellen.«
    »Das ist nicht wichtig. Ich will es nur wissen«, sagte sie, die plötzliche Anwandlung von Angst und Schrecken war vorbei. Sie wollte es wissen, redete sie sich ein, um dem unguten Gefühl zu entkommen, dass sie sich an den irrationalen Glauben klammerte, ihre gegenseitigen Berichte von der Weltgeschichte könnten irgendwie die Zukunft fernhalten, so wie Scheherazade die Axt des Henkers ferngehalten hatte.
    Bewusst tauchte sie in seine Erzählungen von den Orten ein, die er gesehen hatte – Europa, den Orient, Afrika. Er war ein eloquenter Erzähler und ließ sich geduldig von ihr unterbrechen, wenn sie einwandte: »Aber das ist doch nicht, was …«, und: »Sind Sie sicher?«. Es gab Dinge, über die er nicht reden wollte, Zeiträume und Orte, die er auf eine Art und Weise abtat, die sie erkennen ließ, wie weh ihm diese Erinnerungen taten. Gelegentlich war er nur um Haaresbreite entkommen, so wie damals, als er im Spanien der Inquisition strandete. Und dann wieder hatte er großartige Freuden erlebt, wie jene, als er Bachs b-Moll-Messe zum ersten Mal hörte.
    »War es leichter im sechzehnten Jahrhundert Vampir zu sein oder in der Viktorianischen Zeit?«, fragte Ardeth neugierig.
    »Jede Zeit hat ihre eigenen Gefahren. Die Welt war in meiner Jugend größer, unbekannter. Aber dafür glaubte sie an mich und meinesgleichen. Im neunzehnten Jahrhundert war die Welt viel organisierter, aber der Glaube an die rationale Wissenschaft war so stark, dass ich mich wahrscheinlich in eine Fledermaus hätte verwandeln müssen, um irgendjemanden davon zu überzeugen, dass ich nicht bloß irgendein Verrückter war, der sich für einen Vampir hielt. Natürlich«, sinnierte er mit einem schwachen Lächeln, »gab es eine kurze, schwierige Zeit, wo Vampire in Groschenromanen und dergleichen der letzte Schrei waren. Jenes infernalische Buch von diesem irischen Schriftsteller war das Schlimmste.«
    »Sie meinen Dracula?«
    »Eben jenes. Plötzlich reichte es aus, Osteuropäer von adeliger Herkunft zu sein, um zum Gegenstand beträchtlichen Argwohns oder zumindest beträchtlichen Interesses zu werden. «
    »Es ist immer noch sehr populär. Ich habe es in meinem Seminar über viktorianische Romane gelesen. Der Professor erklärte damals, Vampirismus sei eine Metapher«, sagte Ardeth mit einem impulsiven Lächeln.
    »Eine Metapher«, wiederholte Rossokow amüsiert.
    »Ja, für … nun, ›gefährliche, zügellose Sexualität‹«, erklärte sie und bedauerte es augenblicklich, weil es das Bild seines Kopfes über ihrem ausgestreckten Arm heraufbeschwor und die Erinnerung seines Mundes auf ihrer Handfläche.
    »Ah.« Eine lange

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