Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
Vernunft dazu ausgereicht hätte. Jetzt bin ich … fast wieder der, der ich einmal war. Aber ich fürchte, ich bin ein armseliger Verbündeter. Die haben mich zu geschwächt, als dass ich etwas gegen sie unternehmen könnte.«
Einen Augenblick lang fragte sie sich, ob das alles Lüge war, seine Reue, seine Sanftheit, alles nur Vorwand, um sie dazu zu überreden, ihm das zu geben, was er in Wahrheit wollte. Aber es war ihr gleichgültig. Seine Sorge, ob nun geheuchelt oder nicht, bewegte sie, und seine Berührung war das einzig Wärmende in der Kälte ihres Kerkers. »Sie brauchen mehr.« Das war keine Frage, aber als sie den Kopf hob, nahm sie sein Nicken wahr. »Sie könnten es sich nehmen, ich könnte Sie nicht daran hindern.«
»Das könnte ich. Möglicherweise werde ich es sogar irgendwann tun. Aber im Moment …« Er hielt inne, beobachtete sie, die Hand immer noch auf ihrem Haar, ein paar Finger breit von ihrer Wange entfernt.
»Also gut.« Sie ließ die Stangen los und schob den rechten Arm durch. Rossokow nahm ihre Hand, bog ihre Finger auf, beugte den Kopf und küsste ihre Handfläche. Die plötzliche, unerwartete Sinnlichkeit dieser Geste raubte ihr den Atem. Sie spürte, wie ihre Finger sich wieder krümmten, über seine hohen Wangenknochen strichen und die lockeren Strähnen aus seidig grauem Haar berührten, die sein Gesicht verdeckten.
»Wie fühlt es sich an?«, fragte Ardeth atemlos, darum bemüht, innere Distanz zu wahren. Um sicherzugehen.
»Wie Nahrung«, sagte er und hielt inne, um zu ihr aufzublicken, »oder wie Liebe. Manche Mahlzeiten sind nicht mehr als die Versorgung mit dem Lebensnotwendigen, manche ein Festmahl.« Er beugte sich vor und legte die Lippen auf ihr Handgelenk, ließ die Zunge über ihre Vene gleiten. »Manche Liebesakte sind rein körperlicher Natur, manche ein Sakrament. « Sie fühlte seinen Atem auf ihrer Haut, als er sprach.
»Und das hier?«
»Was immer Sie sich wünschen, dass es ist«, erwiderte er, ehe sein Mund sich an der weichen inneren Rundung ihres Arms festsog. Ardeth schloss die Augen ob der Ironie seiner Antwort. Ich will nicht, dass es so guttut, dachte sie verzweifelt. Aber das tut es, o Gott, das tut es.
Ardeth wachte auf ihrer Pritsche auf, ohne Erinnerung daran, wie sie dort hingekommen war. Sie drehte sich benommen zur Seite und schlug die Augen auf. Das schwache Licht über ihr schien wie durch dichten Nebel zu glühen, und sie hatte Mühe, die Benommenheit aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen.
Was war geschehen?, fragte sie sich. Da waren jene Augenblicke schrecklichen Entzückens gewesen, als Rossokow ihr Blut trank. Selbst jetzt hinterließ die Erinnerung daran tief in ihrem Inneren ein mulmiges Gefühl der Erregung. Dann erinnerte sie sich an seine Stimme, die sie drängte zu schlafen. Sie musste zu ihrer Pritsche zurückgekrochen sein, obwohl die Erinnerung daran verschwommen war.
Sie schloss wieder die Augen und gab sich ganz der Trägheit hin, die sie wie ein Kokon umhüllte. Alles schien sehr weit entfernt: die harsche Kälte ihres Kerkers, ihr Leben draußen, ihre Freunde, ihre Arbeit. Sie alle schienen Lichtjahre entfernt in ihrer Vergangenheit und immer mehr verblassend am Ende des Tunnels, durch den sie sich auf die Zukunft zubewegte. Aber an seinem anderen Ende gab es kein Licht.
Nach einer Weile setzte sie sich auf, wischte sich das Haar aus dem Gesicht und sah in die Nachbarzelle. Rossokow saß auf seiner Pritsche, er lehnte an der Wand, das eine Bein angezogen, den Ellbogen aufs Knie gestützt. Zum ersten Mal war diese steife Distanziertheit verschwunden, er wirkte auf eine träge Art graziös. Als er zu ihr herübersah, bemerkte sie, dass die Falten in seinem Gesicht sich geglättet hatten.
»Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte Ardeth und wunderte sich dann über sich selbst. Warum sollte er hier unten die Zeit besser erfassen als sie.
»Ein paar Stunden. Wie fühlen Sie sich?«
»Ich habe mich schon besser gefühlt«, gab sie mit einem etwas gequälten Lächeln zu. Sie nahm eine bequemere Haltung ein und versuchte nicht wahrzunehmen, dass die simple Bewegung alles zum Drehen brachte. Als sie aufblickte, beobachtete er sie immer noch. Sie konnte die Dankesworte fühlen, die auf seinen Lippen warteten. Sag es nicht, dachte sie plötzlich, ich will es nicht hören. Ich will mich nicht daran erinnern, wie es war.
»Also«, begann sie verlegen, um ihn auf etwas anderes zu bringen, und fröstelte dann in der Stille. Ihr
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