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Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht in mir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Baker
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Gedankengang riss ab, und sie hatte nichts, womit sie die Lücke füllen konnte. Sie griff nach einer Frage und warf sie ihm hin, um ihn abzulenken. »Wie sind Sie zum Vampir geworden? Ich nehme an, Sie sind nicht so zur Welt gekommen.«
    »Das wäre ein schwerer Schock für meine Mutter gewesen«, pflichtete Rossokow ihr ernsthaft bei und stand auf, um an die Gitterstäbe zu schlendern. Er lehnte sich dagegen und blickte an ihr vorbei in die Dunkelheit. »Nein. Ich war, soweit ich mich erinnere, ein völlig normales Kind. Ich bin im Jahre 1459 geboren, an einem Ort in jenem Land, das Sie heute Russland nennen. Ich ging nach Deutschland, um zu studieren, und blieb dort. In den Bergen, wo ich meiner Arbeit nachgehen konnte. Tatsächlich war ich mehr Dilettant als Gelehrter. Astronomie, Philosophie, Medizin. An allen Fachrichtungen habe ich mich versucht.« Er lachte leise, aber es war kein freudiger Laut. »Wir waren damals so unschuldig, so eifrig bereit zu glauben, dass die ganze Welt vor unserem hungrigen Verstand für uns ausgebreitet lag. Manches Mal befasste ich mich auch mit der Nekromantie, aber ohne großen Erfolg. Und dann rief ich eines Nachts nach etwas, und es kam. Sie klopfte an meine Tür. Stand im Schnee wie ein Schatten. Und als sie hereinkam, war es, als wäre ein Splitter der Nacht eingetreten, so wie die Sonne in der großen Halle manchmal durch die hohen Fenster hereinfiel.« Seine Augen blickten in weite Ferne, und über dem Eis lag Nebel. »Ich wusste nicht, was sie war, bis sie lächelte, aber da war es schon zu spät. Ich erwachte mit der nächsten Abenddämmerung, und zwei Nächte lang rannten wir wie Wölfe über die Hügel. Dann verriet ich dem Ortspfarrer, wo ihr Sarg lag. Er trieb einen spitzen Pfahl durch ihr Herz, schnitt ihr den Kopf ab und füllte dann ihren Mund mit Knoblauch.«
    »Warum haben Sie das getan?« Sein Achselzucken war auf eloquente und elegante Weise zynisch.
    »Ich war ihrer müde geworden. Und … «, er hielt kurz inne, »in mir war noch genug vom Menschen übrig, um das zu hassen, was sie getan hatte. Vielleicht war es auch die erste unmenschliche Tat, die ich beging.« Bitterkeit lungerte am Rand seiner ansonsten ruhigen Stimme, der Schatten einer dunkleren und, wie sie vermutete, viel jüngeren Sorge.
    »Was haben Sie dann getan?«
    »Ich floh. Eine ganze Welt erwartete mich, wenigstens des Nachts, und in diese Welt hinein floh ich. Das war das erste Gesetz meiner neuen Befindlichkeit – in Bewegung zu bleiben oder zu sterben. Ich wagte es nicht, lang genug an einem Ort zu bleiben, um meine Umwelt erkennen zu lassen, dass ich nicht alterte. Natürlich lernte ich allmählich, welche Lügen ich verbreiten musste, welche Hüllen der Realität ich erschaffen musste, um zuerst ich selbst, dann mein Vetter und dann mein Neffe zu sein, und immer so weiter in der Ahnenlinie. Wahrscheinlich gibt es heute noch Orte, die darauf warten, dass ein Rossokow zurückkehrt. Aber nach dem zu schließen, was Sie mir von der Welt erzählt haben, könnte es sein, dass ich sie gar nicht mehr erkennen würde.«
    »Man würde Sie möglicherweise auch nicht wiedererkennen. Die Dinge sind heutzutage viel – viel organisierter. Sie brauchen eine Sozialversicherungsnummer und drei verschiedene Ausweispapiere, um ein Bankkonto zu eröffnen. Sie brauchen einen Pass, um zu reisen. Fast alles, was Sie heute tun, hinterlässt eine Spur aus Papier – oder aus Computerdaten. Was für die Historiker in zweihundert Jahren sehr bequem sein wird, aber ich kann mir vorstellen, dass es das Leben für Vampire ziemlich erschweren dürfte.«
    Er zögerte einen Augenblick, und sie fragte sich, ob sie ihn vielleicht mit ihrem Schwall fremdartiger Worte und Vorstellungen verwirrt hatte? Aber wenn er Fragen hatte, stellte er sie nicht. Er sagte nur: »So scheint es. Ich vermute, dass alles viel einfacher wäre, wenn sämtliche Mythen über mich und meine Art zuträfen. Heute mehr denn je.«
    »Ja. Ich habe schon bemerkt, dass Sie sich bis jetzt noch nicht in eine Fledermaus verwandelt haben und weggeflogen sind.«
    »Ich kann mich auch nicht in Nebel verwandeln, leider. Trotzdem sollte ich wohl dankbar dafür sein, dass ich keinen Sarg brauche, um darin zu schlafen. Sie hatten einen hier, haben ihn mir in die Zelle gestellt. Als ich ihn ignorierte, schafften sie ihn wieder fort.«
    Ardeth lachte. »Wahrscheinlich war er ein Stück aus der Requisite. Für die Filme.« Der Gedanke ließ die Bilder aus dem

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