Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
Erinnerungen herauf. Sie sah Wilkens die lange Treppe herunterkommen, sah Roias, wie er sich über ihre blutende Hand beugte. Nein, ganz besonders nicht Roias, dachte Ardeth und griff dann unter die Motorhaube des Lieferwagens und klappte sie auf, so dass der Motor frei vor ihr dalag. Sie zerrte daran, riss wie wild an Drähten und Kleinteilen. Als sie fertig war, wischte sie sich die ölverschmierten Hände am Hemd ab und trat zurück, um den verstümmelten Motor anzusehen. Es war so simpel gewesen, dass ihr die Vorstellung, sie sei einmal nicht imstande gewesen, mit solcher Leichtigkeit Metall zu verbiegen, Mühe bereitete.
Berauscht von dem Gefühl ihrer Kraft, ging sie auf die Treppe zu, die ins Innere des Gebäudes führte. Der Irrenanstalt, erinnerte sie sich. Und mit der Erinnerung stellte sich Vorsicht ein, und sie ging leise die Stufen zur Tür hinauf. Die Tür war nicht abgesperrt, ächzte aber, als Ardeth sie öffnete. Sie zwängte sich hinein und rannte, barfuss und lautlos, auf eine Treppe zu und kauerte sich in ihren Schatten. In der leeren Stille konnte sie ferne Herzschläge spüren, die sich zu einem gleichmäßigen Dröhnen verbanden. Das Geräusch drang unter ihre eigenen Rippen und weckte aufs Neue den hohlen Hunger, der dort lauerte.
Niemand schien ihr Eindringen bemerkt zu haben, deshalb verließ sie ihr Versteck und trat in das abgedunkelte Foyer. Am Ende des langen Korridors konnte sie eine rostige, mit schweren Schlössern versperrte Tür sehen. Durch diese Tür hatten sie sie gezerrt, und dann über die Treppe nach unten, erinnerte sie sich. Hatten sie in die Finsternis hinuntergeschleppt, wo er wartete. Er wartete immer noch, und sie eilte lautlos wie eine Katze die Halle hinunter. Sie zerrte an den Metallriegeln, hantierte an den schweren Schlössern herum, aber selbst mit ihrer neu gewonnenen Kraft war sie nicht imstande, die Tür zu öffnen.
Roias besaß die Schlüssel, erinnerte sich Ardeth. Und Wilkens und Peterson. Einer von ihnen würde bald vorbeikommen, um die Gefangenen zu ihren obszönen Spielen zu zwingen und auszulachen. Sie zu quälen oder zu missbrauchen. Sie drängte die Wut zurück, die sie empfand, indem sie sich auf die Unterlippe biss. Sie musste ruhig bleiben, musste sorgfältig und vorausschauend planen. Die Kerle verfügten über Waffen, die sie gegen sie einsetzen konnten, Messer und Pistolen. Sie hatten sogar Waffen, mit denen sie ihm wehtun konnten. Sie durften keine Chance bekommen, an diese Waffen zu gelangen.
Weit entfernt, jenseits der Reichweite der Gangbeleuchtung, hörte Ardeth Schritte. Sie erstarrte, hob den Kopf, um Witterung aufzunehmen, als in der Stille das gleichmäßige D-dumm eines Herzschlags zu vernehmen war. Es war einer von ihnen, und er kam, um nach dem Gefangenen zu sehen. Sie huschte in eine der Türnischen, die den Korridor säumten, und presste sich in den Schatten.
Er summte vor sich hin – es war das nervöse, unruhige Geräusch, mit dem ein Mensch nach uraltem Brauch die Dunkelheit und ihre Schrecken zu verdrängen suchte. Als er an Ardeths Versteck vorbeikam, sah sie, dass es sich um Peterson handelte. Er wühlte in seinen Taschen nach dem Schlüssel.
Verwirrt erstarrte Ardeth einen Moment lang. Was mache ich hier eigentlich?, überlegte sie benommen. Was ist mit mir geschehen? Sie griff sich an den Mund, um nicht aufzuschreien, und schloss verzweifelt die Augen. Was ist mit mir passiert?, jammerte ihr Verstand erneut.
Plötzlich war ein fast musikalisches Klirren zu hören, und sie schlug die Augen wieder auf. Peterson hatte die Schlüssel fallen lassen und bückte sich, um sie aufzuheben, den Rücken ihr zugewandt. Jetzt!, schrie eine Stimme in ihrem Inneren. Sie war sich nicht sicher, ob es ihre oder die des anderen war, aber sie bewegte sich, ohne darüber nachzudenken. Ihr Körper verfügte über ureigenen Instinkt und tat, was nötig war. Ein Arm schlang sich um Petersons Schultern und riss ihn zurück, der andere hob sich und presste ihm die Hand über den Mund.
Er wehrte sich, seine Hände packten sie am Unterarm und versuchten, seinen Mund zu befreien, aber sie war stärker, als sie beide geahnt hatten. Wie sie so mit ihm kämpfte, spürte Ardeth, wie wieder die rote Wut in ihr aufstieg. Dieser Mann hatte sie gefangen gehalten, hatte versucht, sie zu vergewaltigen, hatte von dem Geruch des Todes, den sie trug, sein krankhaftes erotisches Vergnügen bezogen. Sie hasste ihn so, wie sie noch nie im Leben irgendjemand
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