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Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht in mir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Baker
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Leder und Baumwolle fühlen. Der Geruch seiner Lebenskraft, so dicht bei ihr, war überwältigend. Als er unter ihre Lederjacke griff und die Hand auf ihren Busen legte, entrang sich ihr unwillkürlich ein wohliger Laut. »Das kostet mehr«, wisperte er.
    »Schon gut«, murmelte sie an seinem Mund, und seine Hände, die sie festhielten, griffen fester zu.
    Hätte er sie weiter nur geküsst, hätte sie es vielleicht weiterlaufen lassen, hätte die Kraft gefunden zu warten. Aber mittlerweile war sie zu tief drinnen, zu hungrig. Als sein Mund den ihren losließ, suchte sie mit dem blinden Instinkt eines neugeborenen Lebewesens, das die Zitze sucht, nach seiner Kehle.
    Sie schmeckte seinen Schweiß, die bittere Schmutzschicht auf seiner Haut, und dann hatte sie die Haut durchstoßen. Das Blut füllte sie, schluckte seinen Schrei, machte seine plötzliche Gegenwehr zu einem bloßen Ärgernis, dem sie mit ihrem eisernen Griff entgegenwirkte. Sie sanken gemeinsam zu Boden und knieten dort wie betende Liebende, während sie immer wieder schluckte. Sein Kopf fiel in einer Geste der Kapitulation nach hinten, und er stöhnte.
    Sie fühlte, wie das Leben aus ihm herausfloss, wie das Herz mit einer Jähheit anhielt, die sie erschreckte. Einen Augenblick lang kauerte sie neben ihm, hielt ihn fest, und sein Blut gerann in ihrem Mund. Dann stand sie langsam auf und ließ ihn fallen.
    Am Ende der Gasse war ein Kanaldeckel, und sie stemmte ihn hoch und ließ die Leiche in den Abflusskanal fallen. Sie wartete, bis sie das leise Klatschen hörte, ehe sie den Deckel wieder über die Öffnung legte.
    Dann ging sie in die Gasse zurück und erbrach Blut in eine Mülltonne.

19
     
    »Hey, grauer Mann, wie wär’s mit ein bisschen Spaß?«
    »Grauer Mann, hast du dreißig Kröten? Soll ich dir einen blasen?«
    »Mann, wenn Gris-Gris dreißig Kröten hätte, hätte der sie jetzt schon versoffen.«
    Die Frauen lungerten an der Bushaltestelle an der Straßenecke herum. Er kannte ihre Namen; er hatte einige Zeit damit verbracht, auf der Parkbank rechts von ihnen unter dem schützenden Schatten der ungeschnittenen Hecken zu sitzen. Sheila stammte von irgendwo weit oben im Norden, eine fünfundzwanzigjährige Veteranin der Straße mit zehn Jahren Erfahrung. May zählte eher noch zu den Heranwachsenden, vermutete er, nach dem Babyfett in ihrem runden Gesicht und den gerundeten Gliedmaßen zu urteilen. Carlotta, die ihn Gris-Gris nannte, stammte aus Haiti. Sie war die Einzige, die Angst vor ihm hatte, wenn sie es auch hinter ihrer unbarmherzigen Zunge zu verbergen suchte.
    Jede Nacht standen sie an der Bushaltestelle – sie nannten es ihr ›Büro‹ –, in Kleidern, die so eng waren, dass sie jede Kurve betonten. Sie rauchten Zigaretten, plauderten und stiegen in die Autos ein, die in gleichmäßiger Abfolge am Bordstein anhielten.
    Rossokow ging auf ihre spöttischen Bemerkungen nicht ein, während er vorbeischlurfte. Das tat er nie. Wahrscheinlich gab es sogar eine Spur rauer Zuneigung in ihnen, etwas, das die Verlorenen dieser Welt miteinander verband. Vielleicht bereitete es ihnen auch nur Vergnügen, sich vor jemandem zur Schau zu stellen, dem sie sich überlegen fühlen konnten.
    »Du würdest es für zehn Kröten mit dem grauen Mann treiben? Mädchen, bist du verrückt?«, fragte Sheila so laut, dass er es hören konnte. »Ich würd’ allein schon wegen des Geruchs dreißig nehmen. Und wer weiß, wann der sein Ding das letzte Mal gewaschen hat.«
    Der Geruch war nicht zu verleugnen, gestand er sich mit einem Lächeln ein, das er hinter einem gebeugten Kopf und seinem wirren grauen Haar verbarg. Das menschliche Wrack, dem er die Kleider gestohlen hatte, hatte wirklich nicht viel für Reinlichkeit übriggehabt. Die schäbigen Hosen, das schmutzige Hemd und der verschmierte graue Mantel stanken allesamt nach Schweiß, Urin und Alkohol. Genauso wie der Mann selbst gestunken hatte.
    Das war in Rossokows dritter Nacht in der Stadt gewesen. Den ersten Tag hatte er in einer Schlucht in einem geschützten Abflussrohr verbracht, den zweiten im staubigen Obergeschoß einer Garage, die hinten an eine der Villen angebaut war. Wenn er früh am Abend erwachte, hatte er sich jedes Mal sorgfältig darum bemüht, an die Mittel zu kommen, die er für die Zeit seines Erwachens beiseitegeschafft hatte. Sie waren alle weg – oder jedenfalls für ihn in seinem jetzigen Zustand völlig unerreichbar.
    Seine Bankkonten waren vor langer Zeit aufgelöst worden,

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