Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
die Treuhandkonten, die er mit so viel Sorgfalt für seine »Nachkommen« aufgebaut hatte, erforderten jetzt wenigstens drei verschiedene Dokumente, um seine Herkunft nachzuweisen, und er verfügte über kein einziges der Papiere, die dieses Zeitalter offenbar verlangte. Er wusste nicht einmal, mit wem er Kontakt aufnehmen musste, um sich Fälschungen zu verschaffen, die ihm in der Vergangenheit so oft gute Dienste geleistet hatten.
Und jedes Mal, wenn er eine Bank betrat, konnte er hinter sich die Ahnung von Schritten fühlen, konnte Fallen erahnen, die man aufgebaut hatte und die sein Versuch, die letzten Überreste seines alten Lebens für sich zu beanspruchen, mit Sicherheit würde zuschnappen lassen.
In der dritten Nacht gab er es verwirrt und zornig auf. Er zog sich in die Schatten einer der Sehenswürdigkeiten zurück, die er erkannte – eine große Kirche, die jetzt im Vergleich zu den monolithischen Glastürmen, die rings um sie herum aufragten, zwergenhaft erschien, so wie sie einmal über die bescheideneren Gebäude zu ihren Füßen himmelwärts gegriffen hatte. Er versuchte nachzudenken.
In der Irrenanstalt waren Ardeths Erzählungen zuerst nur ein Zeitvertreib gewesen und dann eine Bestätigung, dass jenseits der Grausamkeit von Roias und den anderen noch Leben in ihm existierte, ein Grund auszuharren. Die Welt, die sie beschrieb, war zugleich wundersam und vertraut. Trotz der vielen seltsamen und fantastischen Dinge, die sie ihm erzählt hatte, hatte er doch die Saat des Krieges und der technischen Entwicklung in seiner eigenen Zeit gesehen, hatte gespürt, dass das Tempo des Wachstums sich während seiner Lebensspanne beschleunigt hatte. So war der Lauf der Welt, hatte er damals gedacht. Er würde überleben, so wie er immer überlebt hatte.
Aber als er sich jetzt in dieser Welt befand, im Herzen der riesigen Stadt, deren Lichtschein die Sterne verblassen ließ, stellte er fest, dass seine Sicherheit ebenfalls zu schwinden begann. Das Gewicht der Türme der Stadt lastete auf ihm und verdeckte den Mond.
Hier und da fand er inmitten von all diesem fremdartigen Glas und Stahl einen Überrest jener Welt, die er gekannt hatte. Die in Stein gehauene Fassade eines Bauwerks, ein wiederhergestelltes »Geschichtsdenkmal«, das neu gewesen war, ehe er seinen langen Schlaf begonnen hatte, Straßennamen, die wie eine Parodie ihrer eigenen Vertrautheit wirkten, eingesperrt in beleuchtete Kästen oder untermalt mit kryptischen Schriftzeichen – Chinesisch vielleicht, oder Hindi.
Aber viel öfter fand er im Lärm der neuen Stadt kein Echo der alten.
Mehr als nur die Gebäude hatten sich verändert. Die Straßen wimmelten von Menschen jeder Rasse und Hautfarbe. Er hörte, wie an den Straßenecken in Griechisch und Italienisch gerufen wurde, saß auf einer Parkbank neben zwei alten Frauen, die sich in einer Sprache unterhielten, deren Akzent in ihm ein Sehnen nach dem verlorenen Russland seiner Kindheit wachrief. Und dann gab es auch Sprachen, die er nicht kannte: Chinesisch, Portugiesisch, Urdu und das melodiöse Patois – den französischen Dialekt der Karibik.
Aber wenn er sich dann die Zeitungen ansah, wurde ihm klar, dass die Welt sich trotz allem, was er auf der Straße sah, nicht so sehr geändert hatte – die Gesichter derjenigen, die diese riesige, vielsprachige Stadt beherrschten, waren weiß und männlich, so wie sie es immer gewesen waren.
Hier wie stets und überall bedeutete Geld Macht. Jene, die ihn verfolgten, verfügten über Geld in einem Ausmaß, das sein Begriffsvermögen überstieg. Gefangen in dieser Welt, deren innere Mechanismen ihm immer noch ein Rätsel waren, verfügte er über keine Mittel, um gegen sie anzukämpfen. Er konnte nicht in irgendein anderes Land fliehen, Ardeth hatte ihm das deutlich erklärt. Und der Schutz, den die gotischen Stützpfeiler seiner Vergangenheit ihm geliefert hatten, war nur noch eine Illusion. Heute gab es dort keine geheiligte Zuflucht mehr. Irgendwie musste er einen Weg finden, um den Fallen zu entgehen, die man ihm stellen würde. Er musste seine wahre Natur vor der Welt verbergen, bis er wirklich und wahrhaftig begriffen hatte, wie diese neue Welt funktionierte. Bis er die Waffen gefunden hatte, die dieses neue Zeitalter ihm bot.
Er starrte auf den kleinen Park hinaus, der vor der Kirche lag und sie von dem Beton trennte, der ansonsten über jeden anderen Grashalm ausgegossen schien. Vor dem Licht der Straßenlaternen und den weißen Augen der
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