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Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht in mir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Baker
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und die langen Stunden dazwischen zu füllen. Ardeths Hinweis auf verlassene Häuser hatte ihn zu einem mit Brettern vernagelten Lagerhaus geführt, in dessen feuchtem Keller mit seinem Boden aus gestampfter Erde er Zuflucht vor der Sonne fand. Manchmal saß er im Dunkel der Mitternacht auf dem Dach und zählte die wenigen Sterne, deren Schein durch die Wolken und den Lichtschein der Stadt drang.
    Die zunehmende Wärme der Sommernächte sorgte dafür, dass die heimatlose Bevölkerung auf den Straßen blieb, und löste damit sein zweites Dilemma. Er war vorsichtig und wachsam, aber seine Opfer waren häufig unterernährt und krank, deshalb kam es trotz seiner Vorsicht dazu, dass welche starben: Man fing an, an den Straßenecken und in den Parks Gerüchte zu murmeln. Man tat sie leicht ab, selbst die Menschen, für die die Straße die einzige Heimat war, aber sie machten ihn umso vorsichtiger, so dass er ständig am Rande des Hungers lebte, um keine Katastrophe zu riskieren.
    Die restliche Zeit, die Stunden zwischen Sonnenuntergang und Morgendämmerung, suchte er in Mülltonnen nach Zeitungen und Magazinen, die er Wort für Wort las, bis die großen Lücken in seinem Wissen sich zu füllen begannen. Er stand vor Elektronikläden und den Schaufenstern von Pfandleihern und betrachtete die flackernden Bilder auf den Fernsehbildschirmen. Er besuchte am frühen Abend die Bibliothek und brütete über Büchern, die sich mit Geschichte, den Rechtswissenschaften und wirtschaftlichen Themen befassten, und suchte nach Mitteln und Wegen, um die Mauern aus Papier zu durchdringen, die ihn von seinen verbliebenen Geldern fernhielten. Er recherchierte alles über das Feuer, das seinen Zufluchtsort vernichtet hatte, und die genannten Namen lieferten ihm die Bestätigung seines Verdachts bezüglich der Person, die auf ihn Jagd machte. Er saß auf Parkbänken und beobachtete – unsichtbar für die Augen der Passanten, die Angst hatten, ihn anzusehen, für den Fall, dass er sie um Geld bitten und sie damit zur Entscheidung zwischen Zorn und Schuldgefühlen zwingen würde.
    Auch an diesem Abend beobachtete er, so weit ihm die sorgfältige Lektüre der Aktiennotierungen im Wall Street Journal dafür Zeit ließ. Die Nachrichten aus der Geschäftswelt waren Teil seiner Suche nach einer Strategie geworden, um die Nachstellungen abzuwenden, die Ambrose Dale vor hundert Jahren in Bewegung gesetzt hatte. Er hatte das Glück gehabt, in einer Mülltonne an der Richmond Street eine nur zwei Tage alte Ausgabe zu finden.
    Es war ruhig auf der Straße, abgesehen von den Kunden der Frauen, die am Randstein entlangfuhren und sich ein paar Stunden Gesellschaft suchten. Rossokow beendete seine Lektüre und sah eine Weile dem geschäftigen Treiben der Damen zu und versuchte, sich zu entscheiden, ob er weiterziehen sollte. Er war ruhelos heute Abend, spürte sein Alter wie ein lastendes Gewicht auf seinem Herzen. In dem Monat, der hinter ihm lag, hatte er nur selten mit einem anderen Lebewesen gesprochen, und zu oft waren dies nur Worte der Hypnose gewesen, um bereits umwölkte Geister noch tiefer in die Dunkelheit hineinzulocken. Zum tausendsten Mal wünschte er, er hätte sich nicht gezwungen gesehen, Ardeth wegzuschicken.
    Der Hunger nagte an seinem Verstand, und er stand auf, um seine schlurfende Suche nach Nahrung erneut aufzunehmen. »Hey, grauer Mann«, rief May, »wo geht’s denn hin?«
    »Grauer Mann hat Geschäfte zu erledigen. Besorgungen, Gespräche«, antwortete Sheila wie üblich an seiner statt, und die drei Frauen lachten schallend.
    Von einem überwältigenden Impuls gedrängt, einem anderen Menschen in die Augen zu sehen, die Stimme zu benutzen, die in seiner Kehle verrostete, blieb er stehen und sah sie an. »Ja, ich habe Geschäfte zu erledigen. Es sei denn, die Damen wünschen, dass ich bleibe. Vielleicht sollte ich Ihre freundlichen Angebote annehmen.«
    »Herr im Himmel«, hauchte May, und er sah, wie Carlottas Hand sich bewegte und unbewusst ein Zeichen, an das sie sich aus ferner Vergangenheit erinnerte, zwischen sie in die Luft zeichnete. Um das Böse abzuwehren, begriff er und schauderte. Dann wandte er sich von ihnen ab und murmelte seine ausgeborgten Verwünschungen, verfluchte die »Arschlöcher« dieser Welt.
    Sie werden sich nicht erinnern, sagte er sich. Sie werden sich mit Rauschgift und Alkohol zudröhnen und denken, sie hätten sich das nur eingebildet. Und es wird nie wieder geschehen.
    Entschlossen und jetzt wieder

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