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Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht in mir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Baker
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Blick deutete auf so viel müde Resignation und Verzweiflung hin, dass sie beinahe weitergegangen wäre.
    Aber der Anblick hatte sie an ihren eigenen Hunger erinnert, der inzwischen zu einem hartnäckigen Pochen geworden war. Sie blieb an der Ecke stehen. Er war sicher schon oft in der Opferrolle, sagte eine Stimme in ihr . Dann macht einmal mehr auch nichts aus, erwiderte der zynischere Teil ihres Bewusstseins. Außerdem hast du ja nicht vor, ihm wehzutun – aber du könntest es vielleicht. Du hast nicht vor, ihn zu töten – aber du könntest es vielleicht.
    Und wenn sie es tat, wurde Ardeth plötzlich klar, würde niemand es wissen – oder sich etwas daraus machen. Der Gedanke hätte sie mit Schrecken erfüllen sollen, aber allem Anschein nach war ihr Gewissen ebenfalls verschwunden, war ausgebrannt angesichts von Roias’ Sadismus und Rossokows ewigem Imperativ, zu überleben.
    Das ist alles, worauf es ankommt, sagte sie sich verzweifelt. Mein Überleben. Ich habe einen zu hohen Preis dafür bezahlt, um jetzt einen Rückzieher zu machen.
    Sie trat neben den jungen Mann, der sie mit stumpfem Erstaunen ansah. »Haben Sie ein wenig Kleingeld?«, fragte er.
    »Könnte sein.« Sie sah einen Funken von Leben in den dunklen Augen und dann Zorn über ihre unklare Antwort, und er machte den Mund auf, um sie zu verfluchen. Dann schien er sich daran zu erinnern, dass sie immerhin eine potenzielle Einnahmequelle war, und er klappte den Mund wieder zu. »Läuft’s gut?«, fragte Ardeth.
    »Na ja«, erwiderte er vorsichtig und sah sie an. »Willst du dealen?«, fragte er plötzlich.
    »Nein, aber ich kenne einen Dealer. Was willst du?«
    »Was hat er denn?«
    »Komm mit, dann siehst du’s selber«, schlug Ardeth vor. Der Junge blickte nervös die Straße auf und ab, als wollte er ihre Vertrauenswürdigkeit einschätzen. »Komm. Ist nicht weit. Du bist in zwanzig Minuten wieder hier.« Er nickte schnell. »Hör zu, wir treffen uns an der nächsten Ecke in der John Street, in fünf Minuten. Nur für alle Fälle, du weißt schon«, meinte sie, und er nickte erneut. Ardeth lächelte, ließ einen Vierteldollar in seine ausgestreckte Hand fallen und ging dann weiter.
    Fünf Minuten später stand sie in der Türnische eines geschlossenen Bürogebäudes und wartete. Der Junge war pünktlich, latschte mit gespieltem Selbstbewusstsein und zugleich unruhig auf sie zu. »Wohin?«
    »Hier entlang«, deutete sie mit einer Kopfbewegung an und führte ihn zu den verlassenen Blocks mit Lagerhäusern und Büros ein paar Straßen weiter südlich. Im Schatten eines verlassenen Gebäudes zog sie ihn in eine Seitengasse.
    »Also, was ist das für ein Deal?«, fragte er unruhig, die Hände in die Taschen seiner Jeans gestopft und nervös von einem Fuß auf den anderen tretend.
    »Ich bin der Deal.« Ardeth spürte ein genießerisches Vibrieren, als seine Augen sich weiteten.
    »Hey, Lady, was soll das?«
    »Ganz einfach.« Sie holte einen Zehn-Dollar-Schein aus der Tasche und hielt ihn ihm vor die Nase. »Den kriegst du … wenn du dich von mir küssen lässt.«
    »Du willst dafür zahlen, dass du mich küsst?«, wiederholte er ungläubig, aber seine Augen hatten sich bereits an dem verlockend flatternden Geldschein festgesogen.
    »Genau. Das ist alles. Bequeme zehn Kröten.«
    »Gib her«, sagte er plötzlich und streckte die Hand aus. Ardeth ließ ihn den Geldschein nehmen und sah, wie seine Augen dann zwischen ihr und dem Ausgang der Seitenstraße hin- und herhuschten. Sie verweilten kurz auf der leeren Straße und kehrten dann zu ihr zurück. »Okay.«
    Sie trat auf ihn zu und legte ihm die Hände auf die Schultern. Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass er zitterte. Der Gedanke ließ ihre eigenen Muskeln vibrieren. Der Junge starrte auf sie herab, seine Augen wanderten unruhig zwischen seinem eigenen Spiegelbild in den Gläsern ihrer Sonnenbrille und ihrem dunklen Mund hin und her. Als sie ihn küsste, beobachtete sie hinter ihren dunklen Gläsern, wie seine Augen sich schlossen.
    Zu ihrer Überraschung erwiderte er den Kuss. Ihr Herz pochte so laut, dass sie dachte, ihre Rippen müssten zerspringen, und der Hunger, in den sich jetzt ein Schwall von Begehren mischte, schien sich in ihr ausgebreitet und ihren ganzen Körper mit Hitze erfüllt zu haben. Der Junge legte die Arme um sie und zog sie fest an sich.
    Ardeth dachte, sie könne fühlen, wie sein Herz gegen ihre Brust schlug, das Pulsieren jeder Arterie durch die Schichten von

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