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Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht in mir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Baker
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Autos konnte er sich bewegende Gestalten sehen, die auf den Bürgersteigen schnell dahineilten, ihres Pfads durch die Nacht sicher. Die Schatten im Park selbst mischten sich mit anderen, suchten den Schutz der um die Bäume herum angelegten Beete oder die Schätze, die sie in den aus Draht gefertigten Müllbehältern fanden.
    Eine dunkle Silhouette taumelte plötzlich an seiner Nische vorbei, den Gestank von Alkohol und menschlichen Ausdünstungen verbreitend, und lehnte sich an die Mauer. »Diese verdammten Arschlöcher … Arschlöcher sage ich. Der Teufel soll sie holen«, murmelte der Mann und schien Rossokow dann zum ersten Mal wahrzunehmen. »Ham’Se ’nen Dollar, Mister?«, fragte er und lehnte sich vor, um in die Schatten zu spähen.
    »Nein.«
    »Dann könn’Se mich mal. Ham’Se Schnaps?«
    »Nein.«
    »Dann könn’Se mich mal«, wiederholte der Mann und ließ sich dann an der Mauer entlang zu Boden sinken, um anschließend, eingehüllt in seine schmutzigen Lumpen, dazusitzen. »Ich brauch Schnaps«, verkündete er schließlich. »Gottverdammten Schnaps brauch ich.« Das Haar des Mannes war lang und ungepflegt, seine Gesichtszüge unter einem verfilzten Bart verborgen. Sein hageres Gesicht und seine wilden Augen erinnerten Rossokow an die religiösen Eremiten seiner alten Heimat, von Gott trunken und wahnsinnig. Er rümpfte in automatischer Abscheu die Nase, als der Mann die Position wechselte und die nächtliche Brise den Geruch von Urin, Alkohol und Verzweiflung zu ihm herübertrug.
    Die wahnsinnigen Augen wandten sich wieder ihm zu. »Ham’Se ’nen Dollar, Mister?« Rossokow schüttelte den Kopf.
    »Keiner hat ’n Scheißdollar. Keiner hat ’n Scheißdrink. Diese Arschlöcher sehen nicht mal …«, murmelte der Betrunkene, und dann sackte sein Kopf plötzlich nach vorne. Er sah so aus, als würde er beten.
    »Diese Arschlöcher sehen nicht einmal …«, wisperte Rossokow, und plötzlich traf ihn die Antwort auf sein Dilemma. Es gab nur zwei Wege in die Anonymität: Großer Reichtum und große Armut. Der eine war ihm versperrt, aber der andere lag vor ihm, eingehüllt in den Dreck und den Pesthauch des Alkoholismus. »Freund«, sagte er schnell, und der Mann schnaubte, sein Kopf ruckte herum, und dann blinzelte er ihn aus wässrigen Augen an. »Hä? Was wollen Se?«
    »Wollen Sie einen Drink?«
    »Ham’Se ein’? Wo ham’Se ihn?«
    »Hier. Kommen Sie her.« Der Betrunkene kroch tiefer in die Schatten hinein, hinter die Rosenbüsche, die ihnen Sichtschutz boten. Rossokow verspürte einen leichten Stich ob seiner vertrauensvollen Verzweiflung. Die letzten beiden, die Frau in der ersten Nacht und der Mann in der zweiten, hatten nichts gemerkt, sich an nichts erinnert, als sie in ihren Wohnungen im Erdgeschoß aufgewacht waren. Aber dieser hier – diesen konnte er nicht verschonen. Er durfte ihn nicht als Hinweis auf seine neue Identität zurücklassen.
    »Wo ist der Schnaps?«, fragte der Mann mit kläglicher Stimme. Rossokow trat vor, packte das schmutzige Haar mit einer Hand und hob das Gesicht des Mannes zu sich herauf.
    »Sehen Sie mir einfach in die Augen. Da ist all der Wein, den Sie brauchen.«
    Als er getrunken hatte, streifte er dem Mann die schmutzigen Klamotten ab und schlüpfte dann aus seiner eigenen gestohlenen Kleidung. Er konnte ein Schaudern nicht unterdrücken, als er das schmierige, zerlumpte Zeug auf seinem Körper spürte und die Füße in die halbverfaulten Schuhe schob. Er schnürte seine alten Kleider zu einem Bündel zusammen – der Betrunkene brauchte sie nicht mehr. Dann kroch er aus den Büschen, ohne der hingesunkenen Gestalt in der feuchten Unterwäsche einen weiteren Blick zuzuwerfen.
    Er hatte dafür gesorgt, dass der Mann nicht leiden musste – das war sein einziger Trost. Früher hätte er sich vielleicht einmal eingeredet, dass es ein gnädigeres Schicksal bot als die armselige Existenz auf der Straße, einen süßeren Tod als ein langes, trunkenes Dahinsiechen. Dafür war er jetzt zu alt. Es gab wenige, Lebende oder Untote, die das Ende ihres Lebens begrüßten, wie auch immer es sich darstellte. Er tötete, konnte nicht anders als töten. Aber er konnte sich nicht vorgaukeln, dass er es aus Barmherzigkeit tat – oder aus Gerechtigkeit. Es besaß lediglich ein Quantum mehr an Kraft.
    Das lag jetzt einen Monat zurück. Seit jener Nacht war seine Existenz auf das Nötigste reduziert worden – jeden Tag einen Ort zum Schlafen und jede Nacht Nahrung zu finden

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