Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
solle locker werden. Hier und da etwas riskieren.
Das habe ich. Ich weiß, dass ich das habe, dachte sie plötzlich verzweifelt, aber Ardy, ich meinte doch nicht, dass du alles aufs Spiel setzen sollst.
23
Sie befand sich in der Nähe.
Er war von seinem üblichen Schlupfwinkel weiter im Süden heraufgewandert, hatte sich dabei vorgemacht, er würde es zur Zentralbibliothek schaffen, ehe sie um neun Uhr schloss, hatte aber tief im Herzen gewusst, dass ihre Witterung es war, die ihn anzog.
Halte dich von ihr fern, mahnte sich Rossokow. Erst gestern war jemand in der Unterkunft der Heilsarmee und hat die alten Männer dort befragt. Ambrose Dales Ururenkelin hat nicht aufgehört, nach dir zu suchen – und du hast noch keinen Weg gefunden, um sie aufzuhalten. Und bis dir das nicht gelungen ist, musst du dich von ihr fernhalten.
Er ging die Yonge Street hinauf und fühlte ihre Präsenz irgendwo im Westen. Ganz mit seiner Wahrnehmung beschäftigt, stand er vor den großen Glastüren des Bibliotheksgebäudes, ehe ihm bewusstwurde, dass es dunkel und leer war. Er hielt einen Augenblick lang inne, die Hand auf dem Türgriff, und starrte sein Spiegelbild im Glas an. Du bist ein Narr, sagte er der schemenhaften Gestalt dort, und wenn du mit deiner Torheit nicht aufhörst, wird es diesmal nicht Jean-Pierre sein, der in Flammen aufgeht. Du wirst es sein. Oder Ardeth.
»Tut mir leid, Sie sind gerade zu spät gekommen.« Die Stimme rechts von ihm ließ ihn herumfahren, und dabei krampfte sich seine Hand so fest um den Türgriff, dass er das Glas als Reaktion darauf klappern hörte. Eine junge Frau stand vor ihm, und er erkannte, dass sie wohl im Schatten eines der dünnen Bäume gesessen haben musste. Die Stadt hatte die Bäumchen dort in Granittöpfen gepflanzt, in hilflosem Trotz gegen den Beton, der alles andere zu bedecken schien. »Ich habe gerade versucht, all das auseinanderzusortieren, um es nach Hause zu schleppen.« Sie deutete auf die Ansammlung von mit Zeitschriften gefüllten Einkaufstaschen, die vor dem Pflanzbehälter aufgetürmt waren. »Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.«
Rossokow ließ den Türgriff los und spürte, wie sich ein Lächeln auf seinen Lippen formte. Es war ein gutes Stück nach neun, und die Nacht lag über der Stadt, berührte selbst diese hell erleuchtete Durchfahrtsstraße. Und dieses junge Geschöpf entschuldigte sich dafür, dass es ihn erschreckt hatte. Aber noch während der Gedanke ihn amüsierte, erinnerte die Frau ihn schmerzlich an Ardeth und ihre seltsame Höflichkeit, mit der sie ihn in der fremdartigen Hölle des Verlieses behandelt hatte. »Das ist schon in Ordnung. Ich war einfach zu optimistisch.« Er musterte sie jetzt gründlicher, spürte etwas Vertrautes in ihrer Stimme und der Art und Weise, wie sie ihre Schildpattbrille die Nase hinaufschob. »Sie arbeiten hier, nicht wahr?«
»Ja. Ich bin etwas länger geblieben, um einige liegengebliebene Aufgaben zu erledigen … und die hier mitzunehmen.« Sie deutete wieder auf die Zeitschriften. »Die darf ich mit nach Hause nehmen, sobald die Mikrofilmausgaben geliefert wurden.« Sie trat einen Schritt vor und musterte ihn neugierig. »Ich habe Sie schon ein paarmal hier gesehen. Sie sind der, der tatsächlich Sachen liest.«
»Der Landstreicher, der lesen kann. Nicht nur einer, der nach einer Schlafstelle Ausschau hält.« Die schwache Beleuchtung schaffte es nicht ganz, die Röte zu verbergen, die ihr ins Gesicht stieg.
»Nun, wissen Sie, eine Menge von Ihnen … von denen … sitzen bloß herum und …«
»Ich weiß«, kam er ihr zu Hilfe und war plötzlich froh darüber, dass er an diesem Abend relativ saubere Kleider trug und in seiner Konzentration auf Ardeth auch sein schlurfendes, Verwünschungen murmelndes Ritual vergessen hatte. Er sah auf die Ansammlung von Tüten. »Müssen Sie die alle tragen?«
»Nun, ich habe gedacht, dass ich es schaffen würde. Ich wohne nicht weit von hier. Drüben in Rosedale.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung in die Richtung. Wie jung war sie?, fragte sich Rossokow plötzlich und stellte fest, dass er sich in diesem Punkt und in dieser neuen Welt noch kein Urteilsvermögen angeeignet hatte. Sicher jünger als Ardeth.
»Ich gehe in die gleiche Richtung«, log er. »Es wäre mir eine Ehre, Sie begleiten zu dürfen.«
Sie lachte verlegen. »Sie müssen wirklich in dieselbe Richtung? «, fragte sie, und er erkannte unter ihrem unbekümmerten Tonfall einen Anflug von
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