Die Nacht von Granada
Rashid nicht doch nach Hause kommt.«
»Er ist noch immer nicht da?«, fragte Lucia, obwohl sie es bereits befürchtet hatte.
Nuri schüttelte den Kopf. »Ich hab solche Angst, dass er gar nicht mehr kommt«, flüsterte sie. »Etwas Schreckliches muss geschehen sein. Papa und Mama haben stundenlang hinter verschlossenen Türen gestritten und zwischendrin hab ich Mama immer wieder bitterlich weinen hören. Aber mir wollten sie nichts verraten, sooft ich auch gefragt habe. Angeblich, um mich schützen. Die beiden tun so, als ob ich noch ein kleines Kind wäre!«
Ihr Tonfall wurde flehentlich.
»Was geschieht mit uns, Lucia? Noch vor wenigen Wochen waren wir alle heiter und unbeschwert. Und jetzt ist alles auf einmal so bedrückend geworden. Als ob man einen dunklen Schatten über sich spüre. Ein riesiger schwarzer Vogel, der seine scharfen Krallen nach uns ausstreckt.«
Lucia zog sie in ihre Arme.
Wie weich sie war, wie gut sie duftete, wie schutzbedürftig sie sich anfühlte! Sogar der kleine Kater schien zu verstehen, dass Nuri gerade besonderen Zuspruch brauchte, und schmiegte sich schnurrend an ihre Wade.
»Du kannst ihn fürs Erste behalten«, murmelte Lucia an Nuris Ohr und verfiel dabei unwillkürlich ins singende Arabisch der frühen Kindertage. »Lass uns wegen des Kleinen nicht streiten, einverstanden? Fuego soll uns beiden gehören. Haben wir denn nicht schon immer alles miteinander geteilt?«
Aus Nuris Brust kam ein tiefer Seufzer.
»Hab keine Angst«, fuhr Lucia leise fort und wickelte eine Strähne von Nuris dunklen Haaren um ihren Finger. »Dir wird nichts Schlimmes geschehen. Das erlaube ich einfach nicht!«
»Aber wie willst du das anstellen?«, murmelte Nuri. »Du bist doch auch bloß ein Mädchen!«
»Solange wir zusammenhalten, sind wir unbesiegbar«, versicherte Lucia voller Inbrunst. »Das darfst du niemals vergessen. Und wer oder was sollte uns beide schon trennen?«
Antonio lag am Morgen regelrecht auf der Lauer, weil er Kamal unbedingt abpassen wollte. Das bleiche Gesicht und die fahrigen Gesten des Freundes hatten ihn gestern Abend bis in den Schlaf verfolgt. Nicht einmal Djamilas Anwesenheit konnte er ertragen, was die junge Maurin zu einem ungewohnt heftigen Ausbruch veranlasst hatte.
»Nichts als Spielzeug bin ich für dich, das du herausholst, wenn dir danach ist, und zurück in die Truhe verbannst, sobald du genug hast. Aber ich bin ein lebendiges Wesen, falls du das vergessen haben solltest, eine Frau aus Fleisch und Blut! Meine Geduld neigt sich zu Ende, Antonio Álvarez. Wenn sich nicht bald etwas zwischen uns ändert, gehe ich zurück zu meiner Großmutter.«
Er würde später versuchen müssen, sie zu besänftigen, denn nun hörte er das vertraute Ächzen der schweren Holztür von gegenüber und setzte sich sofort in Bewegung. Zu seiner Überraschung trug Kamal keine einfache Djellaba, wie sonst jeden Morgen, sondern ein blendend weißes Gewand, gegen das seine Haut dunkler als gewöhnlich wirkte. Sein Bart war frisch gestutzt; das schwarze Haar schimmerte feucht unter der runden Kappe.
»Wir sollten reden«, begann Antonio und heftete sich ohne Umschweife an Kamals Seite. »Ich muss endlich wissen, was los ist. Was genau ist gestern geschehen, das dich so sehr aus der Bahn geworfen hat?«
»Bitte frag nicht! Ich möchte dich da keinesfalls mit hineinziehen …«
Antonios fester Griff hinderte Kamal am Weitergehen.
»Ich stecke doch in allem mit drin, was dich betrifft. Erst recht, solange wir unseren Auftrag noch nicht ausgeführt haben. Immerhin wäre dir gestern Abend direkt vor Gaspars Nase fast die geschliffene Kristallrose aus der Hand geglitten«, sagte er. »So durcheinander habe ich dich noch nie gesehen. Also?«
Kamals Schultern sanken nach unten. Dann berichtete er: »Auf dem Rückweg von der Alhambra sind wir ihnen direkt in die Falle getappt, der Junge und ich. Wie Vieh haben die Rotkappen uns in die Kirche getrieben. Dort fand die Zwangstaufe statt. Für mich und viele andere Brüder und Schwestern aus dem Viertel.«
»Dann bist du jetzt ein Christ?« Antonio starrte ihn erschrocken an.
»So würde ich es eigentlich nicht nennen«, sagte Kamal mit unglücklicher Miene. »Es sei denn, ein wenig Wasser aus einem Eimer könnte das bereits bewirken.«
»Und Rashid? Du sagtest doch, ihr wart zusammen!«
»Mein Sohn konnte im letzten Augenblick fliehen.« Kamals brüchige Stimme verriet eine Spur von Stolz. »Ihm ist dieses entwürdigende Schicksal
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