Die Nacht von Granada
»Wenn sie einen Unfall hatten? Oder überfallen wurden? Vielleicht liegen sie irgendwo, sind verletzt und bräuchten dringend unsere Hilfe!«
»Zwei so starke Männer wie Rashid und dein Vater?« Lucia brachte sogar ein halbwegs überzeugendes Lachen zustande, das die Freundin tatsächlich ein wenig zu beruhigen schien. »Das glaubst du doch selber nicht! Du wirst sehen, es gibt einen ganz schlüssigen Grund, weshalb sie …«
Ein Klopfen an der Tür. Djamila kam aus der Küche, um aufzumachen. Ihr folgte Kamal mit steinernem Gesicht.
»Papa!« Nuri flog an seine Brust. »Da bist du ja endlich! Ist Rashid schon drüben? Aber du siehst ja so ernst aus. Und kreidebleich bist du auch! Was ist geschehen?«
»Wo ist Antonio?«, fragte er und strich ihr mit der Hand kurz über das Haar.
»In der Werkstatt«, sagte Lucia auf Arabisch.
Er nickte kurz, drehte sich um und ging wieder hinaus.
Lucia und Nuri sahen sich ratlos an.
»So hab ich ihn noch nie gesehen«, sagte Nuri. »Nicht einmal damals, als Rashid über die Dächer springen wollte, hat er derart verstört dreingeschaut. Es muss etwas Schreckliches passiert sein, da bin ich ganz sicher!«
»Wieso gehst du nicht deine Mutter fragen?«, schlug Lucia vor. »Vielleicht weiß sie ja inzwischen mehr.«
»Genau das werde ich tun.« Nuri war schon an der Tür.
»Aber erzähl mir alles haarklein! Versprochen?«, rief Lucia ihr noch hinterher, da war Nuri jedoch schon nach draußen verschwunden.
Antonio merkte, dass Kamals Hände allmählich ruhiger wurden, aber die Farbe war noch immer nicht in sein wächsernes Gesicht zurückgekehrt. Zu seinem Entsetzen hatte er Antonio nicht allein in der Werkstatt vorgefunden, sondern Gaspar Ortíz hatte ausgerechnet diesen unseligen Abend für seinen Besuch gewählt.
Der Glatzköpfige war nicht allein erschienen. Ein schlanker junger Mann begleitete ihn, den er als seinen Neffen Miguel Díaz vorstellte.
»Miguel ist für mich wie ein Sohn«, erklärte er. »Eines Tages wird er meine Geschäfte weiterführen. Deshalb schien es mir angebracht, ihn einzuweihen.«
»Und ich dachte, je weniger Mitwisser, desto besser.« Antonio gab sich keinerlei Mühe, seine Missbilligung zu verbergen. »Uns machst du tausenderlei Vorschriften, an die du dich selbst jedoch keineswegs gebunden fühlst. Das gefällt mir ganz und gar nicht!«
»Für meinen Neffen lege ich die Hand ins Feuer«, versicherte Gaspar überschwänglich. »Du musst dir keine Sorgen machen! Wir denken mit einem Kopf und sprechen mit einer Zunge. Der Junge ist mindestens so verschwiegen wie ich.« Neugierig kam er näher. »Gibt es denn schon etwas zu sehen? Ich kann es kaum erwarten!«
Noch immer hatte Kamal kein Wort gesagt. Antonio warf ihm besorgte Blicke zu.
»Willst du ihnen nicht deine Kristallrose zeigen?«, fragte er, um Kamal aus der Lethargie zu locken.
Der Freund schrak auf wie aus tiefen Träumen. »Wenn du meinst«, sagte er, erhob sich langsam und ging schlurfend nach nebenan.
Nach einer Weile kam er mit einem Tuch zurück, das er vorsichtig auf der Werkbank ausbreitete. Antonio hatte in der Zwischenzeit alle Öllämpchen eingesammelt und sie in Reih und Glied aufgestellt, um die Werkstatt möglichst hell zu erleuchten.
Die Wirkung war verblüffend. Winzige goldene Lichter brachen sich in den funkelnden Facetten und brachten sie zum Strahlen. Die durchsichtige Rose war makellos, perfekt von allen Seiten.
»Gib sie mir!«, verlangte Gaspar, sichtlich entzückt. »Ich will sie wenigstens einmal berühren!«
Kamal gehorchte und griff nach dem Bergkristall, bekam ihn aber in der Eile nicht richtig zu fassen. Der geschliffene Edelstein rutschte aus seiner Hand und wäre beinahe auf dem Steinboden zersplittert, hätte nicht Miguel einen entschlossenen Satz nach vorn gemacht und ihn im letzten Moment zu fassen bekommen.
»Idiot!«, schrie Gaspar. »Wenn du das auch mit dem Hyazinth machst, kommen wir alle in Teufels Küche!«
»Es ist doch gar nichts passiert«, versuchte Miguel einzulenken, dem die Blässe und vor allem die Fahrigkeit des Mauren aufgefallen waren. »Die Rose ruht sicher und unversehrt in meiner Hand, schau doch nur, Onkel!«
»Ich hab dich nicht hierher mitgenommen, damit du mich belehrst«, rief Gaspar. »Deine neunmalklugen Sprüche kannst du dir also sparen. Und jetzt her mit der Rose! Ich will sie endlich in Augenschein nehmen.«
Miguel reichte den geschliffenen Edelstein an seinen Onkel weiter. »Ich freue mich schon auf den
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