Die Nacht von Granada
hatte.
»Es gibt hier tatsächlich eine kostbare Reliquie«, sagte er. »Ein Armknochen des Heiligen Nikolaus …«
»Zeigt sie uns!«, fiel Lucia ihm aufgeregt ins Wort. »Dort muss der Hyanzinth versteckt sein.«
Er führte die beiden in eine Seitenkapelle, wo auf einem kleinen Nebenaltar ein längliches Glasgefäß stand, vollständig mit goldener Spitze ausgekleidet.
»Seit über dreihundert Jahren im Besitz von San Nicolás«, sagte der Priester. »Und mit blankem Gold bezahlt. Das bezeugen zwei uralte Einträge im Kirchenbuch. Ein Ritter aus Bari hat sie dem damaligen Priester teuer verkauft.« Seine Miene hatte sich erneut verschlossen.
»Öffnet es – bitte!«, flüsterte Lucia. »Wir brauchen endlich Gewissheit.«
»Aber das ist ganz und gar unmöglich! Niemand außer Erzbischof Talavera darf den heiligen Schrein berühren, geschweige denn öffnen.«
»Dann müsst Ihr eben zu ihm gehen und ihn darum ersuchen«, verlangte Lucia. »Am besten sofort! Meine Tante und ich werden Euch dabei begleiten.«
»Wie denkst du dir das, mein Mädchen?« Manolos schmale Hand fuhr über sein Gesicht, als könnte sie damit die Müdigkeit einfach wegwischen. »Frauen im Bischofspalast – das ist schon mal ein Ding der Unmöglichkeit! Außerdem hat Seine Exzellenz jede Menge zu tun, gerade jetzt, in diesen turbulenten Tagen. Ich kann doch nicht einfach zu ihm gehen …«
» … und sagen, dass eine unschuldige Maurenfamilie geopfert wird, falls der Schrein geschlossen bleibt? Hat nicht gerade Erzbischof Talavera immer wieder gepredigt, dass die Mauren unsere Nachbarn, ja sogar Freunde sind, mit denen wir gut auskommen sollen?« Lucia spürte, wie eng die Kehle ihr wurde. »Nuri ist meine Mondschwester. Ohne ihre Mutter Saida wäre ich längst tot und Kamal war stets wie ein zweiter Vater zu mir. Ihr und ihren Eltern darf nichts zustoßen!«
»Lucia hat recht. Und besondere Ereignisse haben seit jeher auch besonderes Handeln erfordert.« Pilars fordernde Stimme duldete keinerlei Widerspruch. »Öffnet den Schrein, Padre, darum bitte ich Euch von ganzem Herzen! Lasst keine Unschuldigen zu Tode kommen! Der allmächtige Gott wird Euch diesen Mut eines Tages sicherlich lohnen.«
Er sah sie lange an, bereits im Begriff, abzulehnen, doch ihr Blick war so zwingend, dass er schließlich nachgab.
»Für niemanden sonst auf der ganzen Welt«, sagte er leise, während seine Hände vorsichtig den komplizierten Verschluss öffneten. »Ich hoffe, das wisst Ihr, Doña Pilar!«
Als er schließlich den gelblichen Knochen herausholte, der auf seinem mattgoldenen, halb verfaulten Spitzenuntergrund so zerbrechlich wirkte, als könnte er schon bei der geringsten Berührung zu Staub zerfallen, hielten Lucia und Pilar den Atem an.
Padre Manolo beugte sich tiefer über den Schrein. Dann schüttelte er den Kopf.
»Er ist leer«, sagte er. »Da ist kein Stein – leider.«
Die Enttäuschung war so übermächtig, das Lucia sich abrupt abwenden musste. Sie biss sich auf die Lippen, um nicht in lautes Weinen auszubrechen.
Dann spürte sie die warme Hand der Tante auf ihrem Kopf.
»Ich glaube, du hast recht, Lucia«, sagte sie leise, während der Pater die Reliquie zurücklegte und den Schrein erneut sicher verschloss. »Der Stein ist hier, irgendwo in dieser Kirche. Wir müssen ihn nur noch finden. Wir werden ihn finden!«
»Aber die Zeit läuft uns davon! Was, wenn sie Kamal verurteilen, und Saida und Nuri …« Lucia konnte nicht mehr weiterreden.
Pilar nahm sie in die Arme und wiegte sie wie ein kleines Kind.
»Das Leben hat mich gelehrt, die Hoffnung niemals aufzugeben«, sagte sie leise, während sie über Lucias Locken strich. »Und irgendwie scheint diese Haltung bei uns in der Familie verankert zu sein, sonst gäbe es uns schon lange nicht mehr. Ich bin mir sicher, auch in dir steckt eine Menge davon. Wir werden alles tun, um deine Nuri und ihre Leute zu retten. Das verspreche ich dir!«
Lucia machte sich frei.
Das Weinen hatte sie sehr mitgenommen, aber sie spürte neue Zuversicht und wagte ein winziges Lächeln.
Den Kinnhaken seines Saufkumpans hatte er nicht einmal kommen sehen, so angetrunken war Antonio Álvarez inzwischen. Zwei Krüge des schweren Weins, dessen erdig rote Farbe ihn stets ein wenig an Stierblut erinnerte, kreisten in seinem Blut und hatten ihn weit zurück in wehmütige Erinnerungen geschickt.
Miriam war plötzlich wieder lebendig, jenes quirlige, hellwache Mädchen mit den rötlichen Locken aus dem
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