Die Nacht von Granada
ihr vorbeilief, mit der rechten Hand eine anzügliche Geste, doch Lucia schlug rasch die Augen nieder, als hätte sie nichts gesehen. Sich mit solch einem Kerl anzulegen, wäre das Letzte, wonach ihr gerade der Sinn stand! Lieber beschleunigte sie ihre Schritte, um das Ziel noch schneller zu erreichen.
Glücklicherweise kam Pilar ihr ein Stück entgegen, das Haar zerzaust, das sonst stets ordentliche Kleid zerknittert und voller Flecken, als läge harte körperliche Arbeit hinter ihr. Noch nie zuvor war Lucia so glücklich über ihren Anblick gewesen.
»Bin gerade erst mit der Armenspeisung fertig«, rief die Tante schon von Weitem. »Du ahnst ja nicht, wer alles im Albaycín auf einmal auf unsere Linsensuppe angewiesen ist!« Näher bei Lucia angelangt, nahm sie ihre Nichte scharf ins Visier. »Dort habe ich auch zu Ohren bekommen, was mit deinem Vater ist«, sagte sie leise. »Abend für Abend in der Schänke, wohin soll das nur führen? Ich muss dringend ein ernstes Wort mit Antonio reden. Diese Sauferei macht alles doch nur noch schlimmer!«
»Später«, sagte Lucia und musste plötzlich an Djamila und ihr Geheimnis denken. Wie wohl die einzige Schwester ihrer toten Mutter auf ein neues Kind reagieren würde? »Jetzt müssen wir beide erst einmal zu Padre Manolo.«
Sie zog die Tante mit sich fort in Richtung San Nicolás. Als Lucia während des schnellen Gehens berichtete, was inzwischen geschehen war, hörte Pilar zunächst kopfschüttelnd zu, dann blieb sie plötzlich stehen.
»Der Padre könnte es schaffen«, sagte sie. »Kamal wurde doch neulich zwangsgetauft. Ein Priester seines Vertrauens, bei dem er die Beichte ablegt, das wäre die einzige Möglichkeit, die ich überhaupt sehe.«
»Wir fragen ihn«, sagte Lucia. »Aber das Wichtigste ist und bleibt der Stein. Der Padre muss uns helfen, ihn zu finden!«
Doch als sie den Geistlichen schließlich in seiner Kirche antrafen, wirkte er so erschöpft, dass all ihre Hoffnungen sanken. Er sah aus, als drücke ihn eine unsichtbare Last; sein Rücken war gebeugt und der Hals, der aus dem viel zu weiten Kragen seiner Soutane ragte, so erschreckend mager, dass sie Angst bekam.
Ob Padre Manolo krank war? Oder aus welchem anderen Grund schienen seine Kräfte auf einmal bis zur Neige erschöpft?
Stets hatte er sich um andere gesorgt, doch nun sah er aus, als brauche er selbst am dringlichsten Fürsorge und Zuneigung.
In Tante Pilar musste Ähnliches vorgehen, das erkannte Lucia an ihrem Blick, der plötzlich seine metallische Härte verloren hatte und ganz weich geworden war. Dann aber straffte sie sich und brachte in einfachen Worten die Angelegenheit auf den Punkt, schneller und direkter, als Lucia es jemals vermocht hätte.
»Das glaube ich nicht!«, rief Padre Manolo, kaum dass sie geendet hatte. »So etwas würde nicht einmal er wagen. Vergesst nicht, Doña Pilar, Rodriguez Lucero ist schließlich ein Mann Gottes!«
»Ein Mann Gottes mit äußerst fragwürdigen Methoden«, entgegnete sie scharf. »Eine ganze Familie unschuldig in den Kerker werfen zu lassen, obwohl man selbst den Übeltäter beauftragt hat! Und vergesst nicht, Padre, Kirchenmänner waren in Granada vor nicht allzu langer Zeit bei der Vertreibung der Juden aus dem Land zu noch ganz anderen Gräueltaten fähig.«
Ihr Gesicht war auf einmal schmerzerfüllt.
»Nach den Juden also nun die Mauren«, fuhr Pilar fort. »Und wer kann schon sagen, wann wir Getauften an der Reihe sein werden? Es gibt schon jetzt Fanatiker im Land, die von der › Reinheit des Blutes ‹ faseln, welche kein Weihwasser jemals zustande bringen könne. Von den Marranen zu den Moriskos*, wenn Ihr versteht, was ich damit sagen will.«
Der Priester starrte zu Boden, als ob er sich auf einmal für seine Kirche schämte.
»Keine schlechte Idee, mich als Beichtvater einzuschleusen«, murmelte er. »Obwohl ich wahrlich nicht behaupten kann, dass Lucero mir sonderlich gewogen wäre. Aber vielleicht lässt er mich ja trotzdem zu Kamal. Einen Versuch wäre es wert!«
Pilars Tonfall wurde eine Spur verbindlicher. »Unser Dank ist Euch gewiss. Doch zurück zu diesem Rätsel, das im Augenblick unser einziger Anhaltspunkt ist und von dem so vieles für uns alle abhängt! Wo in Eurer Kirche könnte der Stein sein? Bitte denkt ganz genau nach, Padre Manolo! Ohne Eure Unterstützung sind wir verloren.«
Ihre Argumente waren bei ihm angekommen, das erkannte Lucia an seinem Gesichtsausdruck, der sich plötzlich verändert
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