Die Nacht von Granada
Kleidern!«
Djamila führte Miguel zu Lucia und Pilar in den Innenhof, wo Tante und Nichte sich immer noch am liebsten aufhielten, obwohl es eigentlich schon zu kühl dafür war. Mit gemeinsamen Kräften hatten sie, vor Anstrengung ächzend und schwitzend, das aus zahlreichen festen Planen zusammengenähte Dach ausgerollt und in den festen Verstrebungen verankert, Männerarbeiten, die sonst vor dem Wintereinbruch Antonio, Kamal und Rashid erledigt hatten. Doch noch länger damit zu warten, wäre ihnen zu unsicher erschienen. Der steingraue Himmel über Granada sah nach weiterem Schnee aus. Sie konnten nur hoffen, dass das alterschwache Dach die schwere Last auch tragen würde.
Bisher war die junge Maurin bei früheren Besuchen stets abweisend, ja fast schon unhöflich zu dem seltenen Gast gewesen, doch inzwischen hatte ihre Haltung sich verändert. Djamila verzichtete sogar darauf, Haare und Gesicht zu bedecken, sondern bot freundlich an, frischen Tee zuzubereiten. Sie war keine Dienerin mehr, der man etwas auftragen musste, was sie dann ausführte, sondern von Kopf bis Fuß junge Hausherrin, die das kostbare Gut der Gastfreundschaft zu pflegen verstand.
Miguel hatte zerstreut genickt, um sich gleich auf Lucia zu stürzen. Sogar Fuego, der sofort zu ihm gelaufen kam, um sich an seinem Unterschenkel genüsslich zu strecken, bekam nur ein nachlässiges Streicheln ab. Trotzdem schaute er mit seinen großen Augen noch eine Weile erwartungsvoll zu ihm auf, bis er sich schließlich zu seinen Füßen einkringelte.
»Wie geht es Nuri?«, fragte Miguel. »Gibt es Neues von ihr? Seit Tagen habe ich nichts mehr von dir gehört, Lucia! Wie kannst du mich nur so quälen?«
»Wenn du wüsstest, was inzwischen alles geschehen ist …«
Er ließ sie nicht ausreden. »Lässt du mich spüren, dass Gaspar mein Onkel ist? Aber ich hab mit seinen Schurkereien nichts zu tun, das musst du mir glauben!«, rief er leidenschaftlich. »Was meinst du, wie oft ich ihn inzwischen zur Rede gestellt habe – viele, viele Male! Beschimpft habe ich ihn, angebrüllt, sogar beleidigt. Niemals hätte ich geglaubt, dass ich jemals derart respektlos mit ihm umgehen könnte! Onkel Gaspar sieht seinen unverzeihlichen Fehler ein. Er bereut und schämt sich für das, was er euch angetan hat. Das geht sogar so weit, dass er mir ein großes Stück Land mit vielen Olivenbäumen überschrieben hat, wohin er sich im Alter eigentlich zurückziehen wollte. Ausgerechnet in den Alpujarras, die Gegend, an die ich schon so lange mein Herz verloren habe! Sobald der Schnee wieder geschmolzen ist, müssen wir einmal alle zusammen dorthin reiten. Ein wahres Paradies auf Erden, Lucia, wenn man wie ich das einfache Leben …«
»Falls es dann nicht zu spät dafür sein wird.« Jetzt war es Tante Pilars kühle Stimme, die seinen hitzigen Redefluss stoppte. »Die Tat Eures Onkel, Señor Diáz, aus welchen Motiven auch immer begangen, spielt mit gleich vier Menschenleben auf einmal. Morgen wird man meinen Schwager Antonio und seinen Freund Kamal vor Gericht stellen, und was dann mit Nuri und Saida geschieht, vermag niemand zu sagen. Lucia und ich kauen noch immer vergeblich an Luceros Rätsel. Doch alles, was wir bislang versucht haben, um es zu lösen, ist leider fehlgeschlagen.«
» Das Kostbarste im Heiligsten «, sagte Lucia. » Beim Bischof der Mildtätigkeit. Felsenfest war ich davon überzeugt, damit müsse die Reliquie des Heiligen Nikolaus gemeint sein, aber dort war der Hyazinth nicht. Und dann das kostbare alte Kreuz …« Gerade noch rechtzeitig biss sie sich auf die Lippen und verstummte. »Ebenfalls nichts. Jetzt bleibt uns nur noch ein einziger Tag, und wenn wir bis morgen den Stein nicht gefunden haben …«
Ihre Kehle war zu eng geworden, um weitersprechen zu können.
Miguels aufgelöstes Gesicht verriet seine Betroffenheit. »Wenn ich das alles nur gewusst hätte!«, rief er. »Ich hätte dir doch helfen können!«
»Wie denn?« Angriffslustig fuhr Lucia zu ihm herum. »Das Einzige, was mir noch helfen könnte, wäre der Edelstein. Oder hat dein plötzlich so reumütiger Onkel doch gelogen – und alles ist nur eine gemeine Finte, um Zeit zu schinden, bis es endgültig zu spät für jegliche Rettung ist?«
Hilflos schüttelte Miguel den Kopf. »Er hat es geschworen«, flüsterte er. »Beim Andenken meiner toten Mutter!«
»Ich bin nach wie vor überzeugt, dass der Hyazinth irgendwo in der Kirche sein muss«, mischte Tante Pilar sich erneut ein.
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