Die Nacht Von Lissabon
Provence und in den Pyrenäen, und dann das starre, letzte, das man nie gekannt hatte und das plötzlich die andern verdrängen will, als wäre alles vorher nur ein Irrtum gewesen.«
Er hob den Kopf. Sein Gesicht hatte wieder den Ausdruck der Qual, in die er vergeblich ein Lächeln hineinzuzwingen versuchte. »Es ist nur noch hier«, sagte er und zeigte auf seinen Kopf. »Und selbst hier ist es so gefährdet wie ein Kleid in einem Schrank voll Motten. Deshalb erzähle ich es Ihnen. Sie werden es weiter bewahren, und bei Ihnen ist keine Gefahr. Ihre Erinnerung versucht nicht, es zu vertilgen, um Sie zu retten, wie meine. Bei mir ist es schlecht aufgehoben, schon jetzt wuchert das letzte starre Gesicht wie ein Krebs über die anderen, früheren -« seine Stimme hob sich, »- und die anderen waren es doch, sie waren wir, nicht das unbekannte, schreckliche, letzte -«
»Blieben Sie noch in Paris?« fragte ich.
»Georg kam noch einmal«, sagte Schwarz. »Er versuchte es mit Sentimentalität und Drohung. Ich war nicht da, als er kam. Ich sah ihn nur, als er das Hotel verließ. Er blieb vor mir stehen: ›Du Lump!‹ sagte er sehr leise. ›Du ruinierst meine Schwester! Aber warte nur! Wir werden dich bald erwischen! In ein paar Wochen haben wir euch beide! Und dann, mein Junge, werde ich mich selbst um dich kümmern! Du wirst noch auf den Knien vor mir liegen und mich anflehen, ein Ende mit dir zu machen - wenn du dann noch eine Stimme hast!‹
›Ich kann mir das gut vorstellen‹, erwiderte ich.
›Du kannst dir gar nichts vorstellen! Sonst hättest du dich so weit weggehalten, wie du kannst. Ich gebe dir noch eine Chance. Wenn meine Schwester in drei Tagen wieder zurück in Osnabrück ist, will ich einiges vergessen. In drei Tagen! Verstanden?‹
›Sie sind nicht schwer zu verstehen.‹
›Nein? Dann merk dir, daß meine Schwester zurück muß! Du weißt das doch auch, du verdammter Schuft! Oder willst du behaupten, du weißt nicht, daß sie krank ist? Komme mir nicht damit!‹
Ich starrte ihn an. Ich wußte nicht, ob er das jetzt erfand, ob es stimmte, oder ob es das war, was Helen ihm erzählt hatte, um in die Schweiz zu kommen. ›Nein‹, sagte ich. ›Das weiß ich nicht!‹
›Nein? Sieh einmal an! Unbequem, was? Sie muß zum Arzt, du Lügner! Sofort! Schreib an Martens und frage ihn. Der weiß es!‹
Ich sah zwei Leute dunkel durch den weißen Tag in die offene Haustür treten. ›In drei Tagen‹, flüsterte Georg. ›Oder du wirst deine verdammte Seele zentimeterweise auskotzen! Ich werde bald wieder hier sein! In Uniform!‹
Er schob sich zwischen den Männern, die jetzt im
Vorraum standen, hindurch und marschierte hinaus. Die beiden Männer gingen um mich herum die Treppe hinauf. Ich folgte ihnen. Helen stand in ihrem Zimmer am Fenster. ›Hast du ihn noch getroffen?‹ fragte sie.
›Ja. Er sagte, du wärest krank und müßtest zurück!‹
Sie schüttelte den Kopf. ›Was dem auch alles einfällt!‹
›Bist du krank?‹ fragte ich.
›Unsinn!‹ sagte sie. ›Das war doch die Erfindung von mir, um wegzukommen.‹
›Er sagte, Martens wisse es auch.‹
Helen lachte. ›Natürlich weiß er es. Erinnerst du dich nicht? Er hat mir doch nach Ascona geschrieben. Ich habe das alles mit ihm abgemacht.‹
›Du bist also nicht krank, Helen?‹
›Sehe ich krank aus?‹
›Nein, aber das bedeutet nichts. Du bist nicht krank?‹
›Nein‹, erwiderte sie ungeduldig. ›Hat Georg sonst noch etwas gesagt?‹
›Das übliche. Drohungen. Was wollte er von dir?‹
›Dasselbe. Ich glaube nicht, daß er noch einmal kommt.‹
›Wozu ist er überhaupt gekommen?‹
Helen lächelte. Es war ein merkwürdiges Lächeln. ›Er glaubt, ich gehöre ihm. Ich müsse tun, was er wolle. Er war immer so. Schon in der Kindheit. Brüder sind oft so. Er denkt, er handle aus Familienrücksichten. Ich hasse ihn.‹
›Deshalb?‹
›Ich hasse ihn. Das ist genug. Und ich habe es ihm gesagt. Aber es gibt Krieg. Er weiß es.‹
Wir schwiegen. Der Lärm der Autos am Quai des Grands-Augustins schien lauter zu werden. Hinter der Conciergerie stach die Nadel der Sainte-Chapelle in den klaren Himmel. Man hörte die Schreie der Zeitungsrufer. Sie übertönten die Motoren wie Möwenschreie das Rauschen des Meeres.
›Ich werde dich nicht schützen können‹, sagte ich.
›Das weiß ich.‹
›Man wird dich internieren.‹
›Und dich?‹
Ich zuckte die Achseln.
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