Die Nacht von Shyness
WolfboysHand ist voller Schmutz und Blut. »Bist du verletzt?«
Er folgt meinem Blick. »Das ist nicht mein Blut.« Seine Hand zittert unter meiner und ich merke, dass er genauso aufgewühlt ist wie ich.
Ich berühre ihn an der Wange. »Ist echt alles okay?«
»Mir geht’s gut.«
Wieder wische ich mir die Tränen ab. Ich sehe bestimmt zum Kotzen aus. Der Lack ist ab, so viel ist sicher. »Was war los?«
»Doktor Gregory …« Wolfboy sucht verzweifelt nach Worten. »Der Typ ist echt krank.«
»Er ist ein absoluter Widerling. Wie bist du ihnen entwischt?«
»Ich wusste mir nicht zu helfen, da bin ich auf die Mauer gesprungen. Bin um den Rand gelaufen und hab geheult wie ein Irrer.«
»Du hast was ?«
Ich versuche mir vorzustellen, wie der Wind nach Wolfboy gegriffen hat, den unglaublichen Raum über und unter ihm.
»Ich bin heulend rumgerannt und die haben mich angeglotzt, als wär ich eine Naturdoku.«
Das also war das Heulen, das ich gehört habe. Das Gefühl der Enge in meiner Brust lässt ein wenig nach.
»Und dann?«
»Ich bin zur Tür gestürmt. Dann die Treppe runter.«
»Und die haben dich einfach so gehen lassen?«
Während ich die Frage stelle, merke ich, dass ich die Antwort schon kenne. Wolfboys Gesicht brennt nicht nur von der Schramme auf seiner Wange. »Nein. Ich hab mich um sie gekümmert.«
»Und das heißt?«
Ich schaue wieder auf seine blutige Hand.
»Das heißt, dass ich dem einen so fest auf die Rübe gehauen hab, dass er wahrscheinlich erst nächstes Jahr wieder aufwacht. Und dem anderen hab ich einen Kopfstoß verpasst. Doktor Gregory hat alles mit angesehen.«
Wolfboy legt die Hände um den Kopf, als versuche er, die Teile seines Schädels zusammenzuhalten. »Ich glaube, ich hab gehört, wie seine Nase gebrochen ist.«
»Sie haben dich angegriffen«, sage ich und streiche ihm über das Bein. »Du konntest nicht anders.«
»In dem Moment war es so, als wäre ich gar nicht in meinem Körper, als könnte ich mir selbst dabei zusehen. Aber jetzt fühle ich mich grauenhaft.«
»Weil du ein guter Mensch bist, deshalb. Du hattest keine Wahl.«
Er ist immer noch voller Zweifel. Wenn es in den Plexus-Bauten Kämpfe gibt, wirken die Rauf bolde hinterher immer so stolz, selbst wenn sie verloren haben. Nie ist es mir in den Sinn gekommen, dass sie vielleicht nach Hause gehen und sich schämen.
»Und den Gnom hast du nicht gesehen?«
, frage ich.
Als ich vom Dach gelaufen bin, war ich darauf eingestellt, meine Mistgabel gegen den Gnom einzusetzen, aber er war nirgends zu entdecken.
»Nein. Ich hatte solche Angst, dass er dich im Treppenhaus abpasst. Als ich sah, dass das Gitter bewegt worden war, wusste ich, dass du es geschafft hast. Und im Tunnel hab ich dann deine Ukulele entdeckt.«
Wow. Das war ja wirklich schlau von mir. Vielleicht hätte ich noch eine Willkommensflagge schwenkenund eine Fackel anzünden sollen. »Was machen wir jetzt?«
, frage ich.
Eigentlich möchte ich mich einfach nur ablegen und ein paar Stunden schlafen, aber wir befinden uns immer noch unter dem Reich des Bösen, und besonders gut versteckt sind wir auch nicht. Wenigstens ein paar der Kidds wissen über die Tunnel sicher Bescheid.
»Ich finde, wir sollten mal gucken, wohin der Tunnel uns führt.«
»Na gut«, sage ich.
»Ich dachte, dir macht es nichts aus, unter der Erde zu sein.«
»Du fandst es am Anfang doch auch nicht so prickelnd. Was ist, wenn wir tagelang ohne Essen und Trinken herumirren?«
»Und in fünfzig Jahren finden sie unsere Skelette und eins der beiden hat eine knochige Hand verzweifelt ausgestreckt?«
Wolfboy gibt eine ziemlich coole Darstellung eines greifenden Skeletts.
»Genau. Die Wege der Tunnel zwischen den Gebäuden in Orphanville könnte ich mir noch erschließen, aber wenn wir weitergehen, habe ich keine Ahnung.«
»Das kriegen wir schon hin. Irgendwohin werden die Tunnel uns führen.«
Ich schaue ihm in die Augen. In diesem Licht sehe ich nur ihren Glanz, nicht ihre Farbe. Ich bin so froh, dass er mir keine Vorwürfe macht. Ich weiß nicht, warum ich so geweint hab. Das passiert mir sonst nie.
»Und bei dir alles okay?«
, fragt er jetzt.
»Ich bin einfach nur erleichtert.«
Wolfboy sieht jetzt tausendmal besser aus als bei unsererersten Begegnung. Jetzt weiß ich, was sich unter der Oberfläche verbirgt. Seine Geduld. Die Art, wie er einen Witz macht und dann so aussieht, als würde er ihn am liebsten zurücknehmen. Wie er mir zuhört, ganz und gar. Wie
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