Die Nacht von Shyness
Leiter herum, aber er ist zu schnell. Er springt von hintenauf mich drauf und umklammert meinen Hals mit den Händen. Irgendwas in meinem Rucksack drückt sich schmerzhaft in meinen Rücken. Ich lasse die Leiter fallen und versuche den Kerl abzuschütteln. Knurrend werfe ich den Kopf zurück und schlage gegen seine Nase. Mit einem Aufschrei gleitet er zu Boden.
In Sekundenschnelle muss ich mich für eine Strategie entscheiden. Ich mache einen auf irren Blick und Verwirrtheit, während ich nach einem Fluchtweg Ausschau halte. Der Mann, der mich angegriffen hat, ist weggekrochen und hat eine Blutspur hinterlassen. Ich weiß nicht, ob ich gegen drei ankomme.
»Wie fühlst du dich, Jethro?«
Doktor Gregory legt den Kopf schräg wie ein neugieriger Wellensittich. »Du hast auf keinen meiner Briefe geantwortet. Allmählich denke ich, du magst mich nicht.«
Ich fauche und fletsche die Zähne. Die sollen mir bloß nicht näher kommen! Der Typ, dem ich den Kopfstoß verpasst habe, ist wieder auf den Beinen, an Doktor Gregorys Seite. Der andere Bodyguard, der kleiner und dünner ist, macht das Trio komplett.
»War das ein gutes Gefühl?«
, erkundigt sich Doktor Gregory. »Delaney so wehzutun?«
Delaney starrt finster vor sich hin. Seine untere Gesichtshälfte ist mit Blut, Speichel und Rotz verklebt. Ein Veilchen breitet sich von seiner Nase zu den Augenhöhlen aus. Ich wusste gar nicht, dass ich mit einem einzigen Schlag so viel ausrichten kann.
»Es muss ein gutes Gefühl sein, deiner animalischen Seite freien Lauf zu lassen«, fährt der Doktor fort. »Deiner wahren Natur zu gehorchen.«
Da fällt mir der Spachtel ein und ich beuge den Arm, um ihn aus dem Netzfach des Rucksacks zu ziehen. Doktor Gregory blickt mir so intensiv ins Gesicht, dass es ihm entgeht, aber Delaney nimmt auch noch die kleinste Bewegung wahr. Ich bekomme den Spachtel zu fassen und lasse den Arm sinken.
»Ich interessiere mich wirklich für deine Lage, Jethro.«
Doktor Gregory kommt einen Schritt auf mich zu, die Hände wie ein Priester oder ein Politiker vor dem Bauch aneinandergelegt. Ich weiche zurück bis zum Rand des Dachs und stoße mit dem Spachtel in Richtung der Männer.
Doktor Gregory bleibt stehen und hebt die Hand, um seine Bodyguards im Zaum zu halten. Ich weiß nicht, ob er mich provozieren oder beschwichtigen will. Er hält das Feuerzeug hoch. »Ich möchte, dass du mich als Freund betrachtest«, sagt er und wirft es mir zu.
Ich fange es mit einer Hand und stecke es automatisch in die Tasche.
»Du könntest in unserer Einrichtung leben. Ich weiß über deine Verfassung besser Bescheid, als du ahnst. Ich würde mein Wissen gern mit dir teilen. Bei uns gibt es noch andere wie dich. Ich glaube, das könnte dir ein Trost sein. Schließlich hast du niemanden mehr, oder?«
Andere wie mich. Vielleicht sogar ein Heilmittel oder wenigstens eine Erklärung. Er blufft nur, oder?
Der große Bodyguard streicht über etwas an seinem Bein. Ich starre auf seine Hand, bis ich sehe, dass an seinem Gürtel Handschellen hängen. Sie wollen mich mit Gewalt abführen.
Mit einschmeichelnder Stimme redet der Doktor weiter. »Deine kleine Freundin hat dich im Stich gelassen. Keine Eltern, kein Bruder …«
So schnell es geht, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, hechte ich auf die Betonbrüstung. Der Spachtel fällt zu Boden und springt davon. Ich strecke die Beine, bis ich halbwegs aufrecht stehe. Die Mauer ist etwa dreißig Zentimeter breit. Ich strecke die Arme zur Seite und schaue nicht nach links, wo es zwölf Stockwerke in die Tiefe geht.
Wenn sie es animalisch wollen – bitte sehr.
Ich starre die Männer an und heule mit gebleckten Zähnen, dabei schüttele ich den Kopf hin und her.
Doktor Gregory ruft seinen Bodyguards schnell zu, dass sie zurückbleiben sollen. Alle drei Männer schauen mich mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen an.
»Warte mal, Jethro …«, setzt der Doktor an, aber da bin ich schon weg.
Mit großen Schritten renne ich über die schmale Brüstung. Während ich renne, heule ich hoch und laut und biege um die erste Ecke. Den nächsten Abschnitt bis zum leuchtenden Eingang nehme ich noch schneller. Ich springe von der Brüstung und hüpfe über einen Stapel Getränkekisten, die mir im Weg stehen. Ich bin schon fast an der Tür, da – RUMMS!
Mit voller Wucht sause ich in den größeren der beiden Bodyguards. Er schwankt nur ganz leicht, dann boxt er mir in den Magen. Vor meinen Augen verschwimmt
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