Die Nacht von Sinos
ich.
»So oft sie es nötig haben«, antwortete sie ernst. »Ich bin die einzige Frau auf der Insel.«
Sobald sie außer Hörweite war, flüsterte ich Johnson zu: »Ich geh' ihr nach. Wenn etwas schiefgeht, verschwinde so schnell wie möglich von hier.«
Er verzichtete auf jeden Widerspruch. Ich kletterte den Hügel hinunter. Es war ein kleines und sehr altes Haus mit einem Hof voller Unrat. Überall stank es nach Mist. Ich duckte mich neben einen Heuhaufen und wartete.
Die Scheunentür krächzte schaurig durch die Nacht. Jemand sagte leise auf griechisch: »Schnell das Gewehr wegwerfen.«
Ich legte die Maschinenpistole vorsichtig auf den Boden und richtete mich auf. In meinem Rücken spürte ich die Mündung einer Waffe. Ich warf mich schnell nach links und versetzte ihm einen Fußtritt gegen das Knie. Eine Sekunde später lag er mit dem Gesicht im Dreck.
Die Tür ging auf, und ein Lichtschein fiel heraus. Ich sah, daß mein Gegner ein schmächtiger Junge war, vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahre alt, mit einem schmalen, ernsten Gesicht und lockigem, schwarzem Haar. Er drehte mühsam den Kopf herum und warf einen Blick über die Schulter.
»Anna«, rief er verzweifelt, »ich bin's, Spiro!«
Sie tippte mir auf die Schulter. »Ist schon gut, lassen Sie ihn los.«
»Wer ist das?«
»Einer von ihnen«, sagte sie. »Ein Roter, aber er liebt mich, er tut alles für mich.« Sie stieß ein kurzes, verächtliches Lachen aus. »Diese Männer! Sie sind wie Kinder und können nicht genugkriegen.«
Der einzige Plan der Festung, den wir bekommen konnten, war etwa fünfzig Jahre alt. Spiro berichtigte ihn in einigen Punkten.
»Die Mauern sind meistens verfallen«, sagte er. »Besonders zum Land hin, und es gibt auch kein Tor mehr, nur noch einen offenen Torbogen.«
»Und wie steht's mit den Wachen?«
»Am Tor steht immer einer. Meistens ein einzelner Mann. Das Gebäude ist zum größten Teil nicht mehr bewohnbar. Tharakos wird im Hauptturm gefangengehalten, im ersten Stock.«
»Hast du ihn kürzlich gesehen?«
»Jeden Tag. Er wird hinausgeführt, damit man ihn vom Schiff aus sehen kann. Ich war aber nie in seiner Nähe, dafür bin ich nicht wichtig genug. Die Offiziere kümmern sich um ihn.«
»Wieviel Wachen sind in dem Turm?«
»An seiner Tür steht fast immer einer. Eine alte Zelle neben dem Eingang im Erdgeschoß ist zu einem Wachraum umgebaut worden.«
»Was heißt fast immer? Ist manchmal keine Wache dort?«
»Sie wissen doch, wie das ist.« Er zuckte die Achseln. »Tharakos wird eingesperrt, und sein Fenster ist nur eine alte Schießscharte. Wo will er denn hin? Manchmal bleiben die Männer unten im Wachraum und spielen Karten.«
Ich betrachtete den Plan und überlegte. »Sieht nicht schwierig aus, Sir«, sagte Sergeant Johnson.
»Die Landung haben wir auch nicht als schwierig angesehen.«
Der Wortwechsel wurde vom Geräusch eines Lastwagenmotors unterbrochen. Johnson stand schon am Fenster und blinzelte durch den Vorhangspalt hinaus.
»Er kommt den Weg herauf«, sagte er und drehte sich zu Anna um. »Sie kriegen anscheinend Besuch.«
Der junge Dawson hielt schon die Pistole in der Hand. Sein Gesicht war blaß und angespannt. Ich packte ihn beim Arm und schüttelte ihn grob. »Stecken Sie das weg. Was haben wir davon, wenn wir sie aus dem Hinterhalt erschießen? Man wird sie vermissen, und unsere Freunde oben in der Festung stellen die ganze Insel auf den Kopf.«
»Da oben auf dem Boden sind Sie sicher«, sagte Anna.
In einer Ecke führte eine Leiter zu einer Falltür hinauf. Spiro kletterte rasch hoch und schob die Tür auf. Johnson und Dawson folgten ihm.
Als ich ihnen nachklettern wollte, legte mir das Mädchen die Hand auf den Arm. Seltsam, ihr Geruch kam mir jetzt nicht mehr abstoßend vor, und ihr Gesicht wirkte nicht häßlich, sondern eher kraftvoll und eigenwillig.
»Ich schick' sie so schnell wie möglich weg.«
»Vielleicht wollen sie bleiben«, sagte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Sie bleiben nie lange. Sie holen sich, was sie wollen, und das so rasch wie möglich.«
Es war nicht die richtige Zeit für eine Unterhaltung, aber ich mußte die Frage einfach stellen: »Und das stört Sie nicht?«
»Lange Zeit war es furchtbar, aber jetzt spür' ich's nicht mehr. Verstehen Sie?« Sie lächelte kurz und traurig. »Eins hab' ich im Leben gelernt: Man kann sich an alles gewöhnen.«
Spiro schob ein Stückchen Holz unter die Falltür, damit wir durch den Spalt ein Stückchen von dem
Weitere Kostenlose Bücher