Die Nacht von Sinos
Höchstwahrscheinlich.
Ich saß auf der Kante meiner Koje, stützte den Kopf in beide Hände und hörte plötzlich Schritte auf der Treppe.
»Savage?« flüsterte sie. »Bist du da unten?«
Sie tastete nach dem Schalter. Ich hob den Kopf und schloß geblendet die Augen. Sie kniete neben mir nieder und strich mir über die Backe.
»Diese Schweine! Sieh nur, was sie angerichtet haben. Was ist mit deinem Freund?«
»Ciasim?« Ich grinste schief. »Der treibt es irgendwo am Strand mit seiner Touristin.«
»Ein richtiger Mann.«
»Und wie!« Ich hielt ihre Handgelenke fest. »Ich bin froh, daß du gekommen bist.«
»Ich weiß. Und was vorhin am Strand geschehen ist ...«
»Zum Teufel damit. Du bist da, und nur das zählt. Wo ist Aleko?«
»Auf der ›Firebird‹. Es ist alles wieder in Ordnung.« Sie zögerte und fügte langsam hinzu: »Er ist allergisch gegen körperliche Gewalt. Er war schon bei einem Psychiater, aber es hat nichts genützt. Dabei ist er kein Feigling im üblichen Sinn. Verstehst du, was ich damit sagen will?«
»Ich glaube schon. Mit meiner Angst unten in der Tiefe ist es ganz ähnlich. Aber erzähl' mir über euch beide. Sag' mir alles, was ich deiner Meinung nach wissen soll.«
»Er würde alles für mich tun«, sagte sie. »Seit meine Schwester umgekommen ist, hat er alle seine Liebe mir zugewandt. Das hat nichts mit Sex zu tun. Ganz ehrlich: In dieser Hinsicht war er immer hochanständig. Ich glaube, er braucht mich.«
»Und du, brauchst du ihn auch?«
»Ich brauche niemanden«, sagte sie und fügte hinzu: »Jedenfalls dachte ich das bisher.«
Sie setzte sich neben mich. »Savage, ich bin eine reiche Frau. Mein Lieblingsonkel hat mir viel Geld hinterlassen, weil er vernünftig genug war, eine reiche Amerikanerin zu heiraten, die unbedingt Gräfin werden wollte. Aber ich komme erst an das Geld heran, wenn ich einundzwanzig bin. Ich muß noch über ein Jahr warten, und bis dahin ist Dimitri mein Treuhänder. Mein Onkel hat meinen Vater nie gemocht.«
Das erklärte manches. Ich stand auf und stöhnte unwillkürlich, weil ich überall Schmerzen spürte.
»Hast du dir weh getan?« fragte sie sehr besorgt.
»Ich werde alt, das ist es. Ich muß jetzt schwimmen gehen. Kommst du mit?«
»Meinst du, du schaffst es?«
Sie stand da, eine Hand an meine Hüfte gelegt, kräuselte wie immer verächtlich ihre Lippen, und ich wußte genau, daß sie nicht das Schwimmen meinte. Sie wußte es auch.
»Du mußt es eben drauf ankommen lassen«, sagte ich. »Komm mit an Deck und wirf die Leinen los, wenn ich es dir sage. Dann suchen wir uns ein schönes, ruhiges Plätzchen.«
Ich fuhr mit ihr hinaus nach Hios, wo ich mittags am Strand mit Ciasim gegessen hatte. Ich wollte weg von den Menschen, so weit weg wie nur möglich.
Die Überfahrt war in dieser Nacht besonders schön, der Mond schien klar, und wir hatten ausgezeichnete Sicht. Sarah lehnte in der Tür des Ruderhauses und sah mir zu.
»Du liebst dieses Schiff«, sagte sie nach einer Weile. »Hier bist du ein ganz anderer Mensch.«
»Ja, da magst du recht haben. Aber es ist auch das Meer.«
»›Gentle Jane‹«, murmelte sie. »Ist das eine frühere Freundin?«
Ich lachte. »So hieß sie schon, als ich sie kaufte. Ob du es glaubst oder nicht, in Cornwall gibt es tatsächlich einen Ort dieses Namens.«
Ich übergab ihr für eine Weile das Ruder. Nach einer halben Stunde hatten wir Hios erreicht. Ich stoppte die Dieselmaschinen und ging in der kleinen Bucht, die ich schon am Vormittag aufgesucht hatte, vor Anker.
Ich suchte ein paar Decken, Kaffee und einen Topf zusammen, dazu eine Dose Milch, und dann fuhren wir im Schlauchboot an Land. Am Strand lag noch genug Treibholz herum, knochentrocken nach der Hitze des Tages. Ich hielt nur ein Streichholz an die dürren Zweige, und schon prasselten die Flammen zum Nachthimmel hinauf.
»Unsere eigene Insel«, sagte sie. »So gefällt's mir.«
»Gehen wir jetzt schwimmen?«
»Später, wenn du nichts dagegen hast. Reden wir.«
»Worüber«
»Über alles, über Gott und die Welt.«
Ich spürte ihre Nähe und drängte für eine Weile die große Frage zurück, die ich ihr stellen wollte. Statt dessen fragte ich: »Du hast vorhin gesagt, daß du dich für die politischen Ambitionen deines Schwagers nicht interessierst, war das dein Ernst?«
Sie sah mich überrascht an. »Habe ich deine Frage nicht klar genug beantwortet? Ich interessiere mich nicht für Politik. Ich interessiere mich nur für das
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