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Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)

Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)

Titel: Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marco Lalli
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lange, bis eine Ordnung sichtbar wurde, bis die politische Landschaft in jene Parzellen eingeteilt war, die für die siebziger Jahre so typisch wurden. Vieri war immer dabei. Er trieb an, teilte ein, organisierte, in den Diskussionen stand er immer an vorderster Front und immer führte er die Kompromisslosesten an, jene, die nichts zu verlieren hatten, die bereit waren, ein Stück weiter zu gehen als die anderen.
    Überall, wo man Vieri kannte, galt es als ausgemacht, dass seine steile politische Karriere, die stetige Radikalisierung, die ihn bald an die Spitze der Studentenbewegung von Pisa setzte und zum auffälligsten Vertreter einer neuer Art politischen Führers machte, auf einen ganz persönlichen Protest zurückzuführen war. Man war sich einig, dass die Strenge, die er gegen sich und andere übte, die Art und Weise, wie er Dinge weiterdachte, beängstigenden Schlussfolgerungen entgegen, nur im Zusammenhang mit dem leiblichen Vater, mit der Familie, in die er hineingeheiratet hatte, verständlich war. Täglich schien er sich und seiner Umgebung beweisen zu müssen, dass er auf der richtigen Seite stand, auf der Seite des Fortschritts, auf der Seite der Rebellion. Niemals durfte der Schatten eines Zweifels auf ihn fallen, niemals sollte jemand mutmaßen dürfen, er stünde unter dem Einfluss der rückwärts Gerichteten, der Zurückgebliebenen und Ewiggestrigen.
    Tatsächlich war es Stefanos Verrat, der ihn so hart und unerbittlich machte. Ein Verrat, der in einer fernen Vergangenheit verborgen war und doch Tag für Tag an ihm nagte wie eine unheilbare Krankheit. Und es waren die vielen Jahre, die seitdem vergangen waren, die ihm das Leben schwer machten, die Zeit der Täuschung, in der aufgewachsen war, das falsche Bild des Onkels, das er in sich getragen hatte, arglos auf das vertrauend, was er zu sehen meinte. Mit Stefano hatte er das einzige Vorbild verloren, das er je gehabt hatte. Das war das, was er ihm nicht verzeihen konnte und nie verzieh.
    Vielleicht war das der Grund, warum er nie zurückwich, warum er so kompromisslos hinter jeder Sache stand, zu der er sich einmal bekannt hatte, warum er seine Studenten und Gefolgsleute nie zu enttäuschen vermochte. Er ging den eingeschlagenen Weg weiter, auch wenn er wusste, dass er nirgendwohin führte.
    Vieris Verhältnis zu seinem ältesten Sohn Gianluca war schwierig, und so sollte es bis zu dessen frühen Tod bleiben.
    Anders als sein Vater, der die Ausgelassenheit des Strandlebens liebte und die Berge seiner Jugend zu meiden schien, hatte Gianluca schon mit vierzehn oder fünfzehn Jahren damit begonnen, sich dorthin zurückzuziehen. Er war ein stiller Einzelgänger, jemand, der Ruhe und Selbstbeherrschung ausstrahlte und im Trubel der Sommer an der Küste seltsam fehl am Platz wirkte.
    Wenn er auf einem Felsen saß, so weit oben, wie er mit seinen ausgetretenen Stiefeln zu klettern wagte, meditierte er. Dann drängte er alles Denken zurück, wurde eins mit der Natur um sich herum und mit dem Augenblick. Manchmal schloss er die Augen und versuchte zu wachsen, versuchte die Schwärze in seinem Innern so weit auszudehnen, bis sie über die Gipfel der Berge hinausreichte. Er dehnte sie hinaus bis aufs Meer und hinunter bis ins tiefste Gestein.
    Diese Schwärze spürte er auch in sich, wenn er nachts wach lag und sich eine Welt vorstellte, in der es ihn nicht gab. Es war eine Welt, die unverändert schien. Auf ihr lebten die Menschen so weiter, als fehle nichts. Er hinterließ keine Lücke und er hinterließ keine Spuren. Es war eine seltsam fremde und doch vertraute Welt. Eine Welt, in der er nicht gebraucht wurde und in der es keinen Unterschied machte, ob er geboren worden war oder nicht. Das waren die Stunden, in denen es sich am einsamsten fühlte.
    Er ging gern auf den Friedhof. Langsam schlenderte er durch die campi mit ihren ordentlich Erdgräbern, durch die Gänge der Anlagen, die den Urnengräbern vorbehalten waren, oder saß auf einer der wenigen Bänken und las.
    Der Friedhof lag am Rande der Stadt, jenseits des tief eingeschnittenen Flusstals, in dem sich die Marmorsägewerke angesiedelt hatten. Von Gianlucas Schule war es nur ein kurzer Weg, und wenn er über die Brücke zum Stadtteil Mirteto ging, begleitete ihn das Kreischen der Steinsägen und das Hupen der Laufkräne. Am liebsten war er auf dem Friedhof, wenn es regnete oder wenn es neblig war, im Herbst oder Winter, dann lief er frierend durch die riesige Anlage und suchte seine toten

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