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Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)

Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)

Titel: Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marco Lalli
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Urgroßeltern.
    Piero lag in einem Souterrain, das an ein Gewölbe erinnerte. Hier roch es immer modrig, nach verwesenden Blumen und stehendem Wasser. Die Gräber waren in den Mauern eines langen Ganges untergebracht. Eine endlose Reihe von Marmorplatten bedeckte die Wände. Wenn Gianluca suchend an ihnen vorbeilief, las er die Namen, betrachtete die Fotos in ihren verwitterten Metallrahmen, seltsame Bilder von festlich schauenden Menschen, Männern in engen, schlecht sitzenden Anzügen, schwarz gekleideten Frauen mit einem harten Glanz in den Augen. An Weihnachten, Ostern und Allerheiligen waren die Gräber blumengeschmückt. Keine Vase oder Halterung, ohne Lilien, Astern oder Nelken. Die Blumen wurden von der Friedhofsverwaltung verteilt und von den Gärtnern ein paar Tage später verwelkt wieder eingesammelt.
    Maria lag am anderen Ende des Friedhofs auf einem den Bergen abgewandten Feld, und bei jedem Besuch wünschte sich Gianluca, die Urgroßeltern näher beieinander liegen zu sehen, so nahe, wie sie sich im Leben gewesen waren. Doch im Gegensatz zu den Del Neros hatten die Tarabellas kein Familiengrab, und wenn Gianluca an dem pompösen granitenen Tempel von Paolas Familie vorbeikam, wünschte er sich manchmal, er möge eines fernen Tages woanders begraben werden. Marias Grab schmückte ein schlichtes Kreuz aus weißen Statuario . Die Wege darum herum waren mit feinem, weißem Marmorkies bedeckt, der leise unter den Sohlen knirschte. Jemand, der ein wenig größer als Maria gewesen wäre, hätte von der Anhöhe, auf der das Grab stand, das Meer sehen können, einen graugrünen Streifen, der sich in den tief hängenden Wolken verlor.
    Gianluca kannte Vieris Großeltern nur aus den Erzählungen des Vaters, aus dem Wenigen, das Laura an manch einem ruhigen Sommerabend über die Lippen gekommen war, und wenn er sie Winter für Winter suchte in den Weiten der Grabwüsten, dann vielleicht deshalb, weil seine eigenen Großeltern in Deutschland waren, in diesem unbegreiflich fernen und fremden Land, und er nicht wusste, ob sie ihm fehlten.
    Blieb der Friedhof den Winter- und Herbstmonaten vorbehalten, gehörten die Berge dem Sommer. Seine Vespa stellte er dort ab, wo die asphaltierten Straßen endeten. Dann ging er zu Fuß weiter oder ließ sich von einem der Sattelschlepper mitnehmen, die die Schotterpisten entlangrasten. Leer fuhren sie hinauf, mit schweren Blöcken beladen ging es hinunter zum Hafen. Sie hatten die Aufgabe der lizzatori übernommen, hatten erst vor kurzem auch die Marmorbahn abgelöst, und die wenigen ehemaligen Bergarbeiter, die das Glück hatten, eine Arbeit als Fahrer gefunden zu haben, erzählten Gianluca von der glorreichen Vergangenheit, vom erbitterten Kampf, in dem sie den Stein Meter um Meter zu Tal gelassen hatten, und während sie sprachen, spuckten sie aus dem Fenster und lenkten ihr Ungetüm einhändig an den Abgründen entlang, ohne diese eines Blickes zu würdigen. Gianluca hörte zu und rauchte die Zigaretten, die sie ihm anboten. Dass sein Vater einer von ihnen gewesen war, behielt er für sich.
    Tatsächlich gab es an Vieri nichts, was an seine Zeit im Steinbruch erinnert hätte. Er trug seine gelockten Haare jetzt etwas länger, hatte ein modisches Bärtchen, und mit seiner dünnen runden Brille, der Wildlederjacke, unter der sich die Halstücher bunt und seiden um seinen Hals legten, glich er einem jener Intellektuellen, die es an den Universitäten Ende der Sechziger zahlreich gab. Sooft er das Proletariat im Mund führte, schienen ihn seine weichen, fast weiblichen Hände Lügen zu strafen.
    Umso erstaunter war Gianluca, seinem Vater an einem dieser Sommervormittage in den Bergen zu begegnen.
    Vieri war von jungen Leuten umgeben, einer kleinen Gruppe, mit der er durch das lockere Geröll des Abraums bis zu einem stillgelegten Bergwerk hinaufgestiegen war. Dort, an der baufälligen Absperrung, zeigte er hinunter in den Abgrund, zu den Umkehrrollen, in denen noch rostig die Stahlseile hingen, zu den verbeulten Zinktruhen, die irgendwann die eingefetteten Taue vor den Ratten geschützt hatten.
    Weitläufig, wie die Marmorberge waren, mit ihren unzähligen Steinbrüchen, den endlosen Geröllhalden, die ihre Gipfel bedeckten, konnten Gianluca diese Hand voll Menschen auf dem kleinen Plateau am Eingang des Bergwerks kaum stören. Und doch spürte er einen Stich, als er seinen Vater erkannte. Schlimmer, als wenn Fremde in sein Gebiet eingedrungen wären, schien der Alltag, der in

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