Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
zurückging, dann sehnten sie sich nach der unveränderlichen Ordnung des großelterlichen Hauses, der Ruhe, der vaterlosen Zeit, und selbst die inquisitorische Strenge der Oma, die zur Verzweiflung treibende Umständlichkeit des Opas verklärten sie aus der Ferne zu etwas höchst Erstrebenswertem.
Sie begannen ihren Vater zu hassen, ihren Vater und Pierino, denn schließlich waren beide die Ursache, dass man die beruhigende Idylle des Del Nero‘schen Haushalts mit der Hölle eines eigenen Zuhauses hatten vertauschen müssen. Sie verstanden nicht, warum dieser Mann, der sich über Jahre hinweg kaum um sie gekümmert hatte, plötzlich so viel Raum beanspruchte, warum er den kleinen Pierino über alles zu lieben schien und sie selbst so lange vernachlässigt hatte. Jetzt, da sie unter einem gemeinsamen Dach lebten, war der zuletzt Geborene der Nabel der Welt. Immer ging es nur um ihn. Wenn er schrie, dann wurden sie verdächtigt, ihm etwas angetan zu haben. So kam es, dass Pierino sie bereits im Alter von wenigen Monaten zu tyrannisieren begann, und wenn sie sich bei der Mutter beschwerten, hob diese die Schultern, fuhr ihnen über die Haare und sagte: "Setzt niemals Kinder in die Welt. Kinder sind das Schlimmste, was einem passieren kann." Damit schien das Thema für sie erledigt, und Gianluca und Marietta gingen auf ihr Zimmer, um zu überlegen, womit sie den kleinen Pierino quälen konnten, ohne vom Vater erwischt und zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Trotz der ständigen Eifersuchtsszenen, die Paola ihm machte, trotz der täglichen Spannungen ums Geld, Vieri bereute es nie, mit ihr und den Kindern zusammengezogen zu sein und seine eigene, richtige Familie, wie er manchmal sagte, gegründet zu haben. Und wenn seine Frau wieder einmal weinend auf gepackten Koffern im Schlafzimmer saß, um zu ihren Eltern zurückzugehen, gelang es ihm immer wieder, sie mit Liebesschwüren und Versprechen jeglicher Art davon abzuhalten. Tatsächlich genoss er das Familienleben, ein Freude, die man ihm allerdings selten anmerkte, wurde sie doch dadurch getrübt, dass er hinter allem und jedem den schädlichen Einfluss der Großeltern sah, hinter den Kunststückchen Gianlucas, die ihn in seinen Augen zum dressierten Affen machten, hinter dem Prinzessinnengehabe Mariettas, die mehr einer Puppe als einem Kind glich. Nur Pierino schien zunächst frei davon.
Hinzu kam, dass er sich plötzlich als anerkanntes Mitglied der Gesellschaft fühlte. Allein der Umstand, dass er für Frau und drei Kinder sorgte, schien ihn zu einem verantwortungsbewussten Familienvater befördert zu haben. Außerdem war er auf eine Professur für Makrosoziologie berufen worden. Er schlüpfte in seine neue Rolle wie in einen Maßanzug. Von einem Tag auf den anderen war er nicht mehr der Bohemien, der seine Zeit mit politischen Diskussionen und zweifelhaften Frauengestalten füllte, nicht mehr der Berufsjugendliche mit angegrauten Schläfen. Obwohl sich an seinem Leben wenig oder nichts änderte, bekam alles, was er tat, eine wundersam neue Bedeutung. Wenn er seine Nachmittage rauchend und diskutierend im Café verbrachte, dann „entwarf er die Zukunft unseres Landes“ und wenn er mit einer Studentin schlief, dann war dies vor allem der Ausdruck seiner libertären und antikapitalistischen Haltung.
Tatsächlich wurden seine Ansichten im Laufe der Jahre immer radikaler, und die sechziger Jahre sollten für eine Beschleunigung dieser Entwicklung sorgen. Die Zeit an der Universität, die Unruhe, die sie kennzeichnete, schien einen Sog auf ihn auszuüben, ihn mit immer größerer Geschwindigkeit mitzureißen. Obwohl er sich nie an einer konkreten Aktion beteiligte, sich weder prügelte noch, wie viele andere später, mit einer Pistole im Hosenbund herumlief, wurde er ein Anführer. Einer von jenen, die in den übervollen Hörsälen auf den Tischen standen und das große Wort schwangen, in die vom Rauch und Schweiß gesättigte Luft schrieen, bis sie heiser waren. Die Studenten scharten sich um ihn wie die jungen Arbeiter, die schüchtern durch die Korridore der Institute und Seminare irrten, als könnten sie sich tatsächlich jene Bildung und Gleichberechtigung erlaufen, die ihnen allenthalben versprochen wurde. Bald bildeten sich die ersten organisierten Gruppen, zerfielen und fanden sich in anderer Zusammensetzung wieder. Sie waren wie Dampfblasen, die einem brodelnden Topf entsiegen. Je heißer sie waren, umso schneller schienen sie zu platzen. Es dauerte
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