Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
den Behörden gestellt. Er hatte sich vorgenommen, nur wertlose Informationen weiterzugeben. Dinge, die allgemein bekannt waren oder niemandem ernstlich schaden konnten. Aber es kam, wie es kommen musste, und er war immer tiefer hineingezogen worden. Als sie ihn schließlich nach Frankreich schickten, um die Exilgruppen auszuspionieren, hatte er längst keine Wahl mehr gehabt. Jahrelang belieferte er seine Kontaktleute mit allerlei Erkenntnissen über Zusammensetzung und Pläne der verschiedenen Gruppierungen, die im fernen Nizza auf das Ende des Mussolini-Regimes warteten.
"Ich habe es für meinen Vater getan, für meinen Vater und für meine Mutter", fuhr Stefano fort. "Ich weiß, es klingt wie eine Ausrede, aber wenn ich nicht diese Angst in Pieros Augen gesehen hätte, diese uralte Angst... Ich glaube, alleine hätte ich es durchgestanden." Schon bei der Flugblattgeschichte im Hafen von Carrara hatte er für Del Nero gearbeitet. "Drei Jahre haben sie mich in Frankreich schmoren lassen. Drei endlose Jahre." Der Wind hatte aufgefrischt. Er trieb die Wellen vor sich her, bis sie so hoch und dünn wurden, dass sie sich selbst zu überholen schienen. Doch schon lange vor dem Strand brachen sie sich und verschmolzen mit den Schaumteppichen, die im braungrünen Wasser an Land trieben. "Als sie mich dann wissen ließen, ich dürfe wieder zurück, konnte ich es gar nicht glauben. Und doch war es so. Für die meisten hier an der Küste war ich ein Held." Er lachte dumpf. "Ich war ja im Exil gewesen. Wie sich das anhört: Exil! Stefano Tarabella, der Unbeugsame... Nur Del Nero und ich wussten, dass es anders gewesen war. Gleich am ersten Tag nach meiner Rückkehr verbot er mir jegliche politische Betätigung. Und er würde mich reaktivieren, wann immer es ihm beliebte." Stefano wandte sich wieder Vieri zu, der ihn ausdruckslos beobachtete. "Fünfzehn Jahre lang habe ich darauf gewartet. Jeden Tag habe ich darauf gewartet, dass alles wieder von vorn losgehen würde. Aber sie haben mich in Ruhe gelassen."
Vieris Augen waren starr. Er schien durch Stefano hindurchzusehen.
"Ich schwöre dir, dass es so war. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört."
"Du hättest es mir sagen müssen. In Rom hättest du mir es sagen müssen."
Stefano hob die Schultern. "Als wir nach Rom fuhren, habe ich gar nicht mehr daran gedacht. Mein Gott, die Geschichte lag doch eine Ewigkeit zurück! Ich war ein halbes Kind gewesen. Und ich hatte meinen Fehler wiedergutgemacht. Hatte ich nicht im Krieg fast mein Leben gelassen?" Er schüttelte den Kopf. "Aber plötzlich war ich wieder der Spitzel, der Verräter, untragbar für jedes politische Amt." Er stockte. "Es war ungerecht, so unglaublich ungerecht..."
"Du hättest es mir sagen müssen, als du von Paola erfahren hast."
Wieder sah Stefano in Vieris kalte Augen. "Ich habe es versucht. Mehr als einmal habe ich es versucht..." Er suchte nach Worten. "Du weißt, du warst... Du bist wie ein Sohn für mich..." Er brach ab.
Irgendwann stand Vieri auf. "Ich hatte so viele falsche Väter, dass ich mir manchmal wünsche, ich hätte gar keinen gehabt." Er nahm seine Jacke und ging.
6. Kapitel
Paola Del Nero blieb im Hause ihrer Eltern wohnen. Vieri hatte nach seinem Studium an der Universität eine schlecht bezahlte Stelle als Dozent angetreten. Er verbrachte seine Zeit häufig in Pisa. Manchmal blieb er wochenlang weg. So kam es, dass Paola sich bald wie eine jener Seemannsfrauen fühlte, deren Ehen mehr ein Aushängeschild den Freundinnen und Verwandten gegenüber war, als dass sie eine Bedeutung im Alltag gehabt hätten.
Solange sie im Haus der Eltern wohnte, war sie selbst Kind, und so hatte sie wenig Skrupel, ihre Kinder in die Obhut des Kindermädchens zu geben, der Großeltern, die sich ihrer Annahmen, als seien es die eigenen. Während die Großmutter mit der für sie typischen Strenge zuerst die Sauberkeitserziehung, später die sittliche Reifung der Enkelkinder überwachte, sah sich der Großvater für die intellektuelle Förderung insbesondere des jungen Gianluca verantwortlich. Klistiere wie Dreisatzaufgaben hielten gleichberechtigten Eingang in das Leben von Paolas Kindern. Waren Erstere unerlässliche Hilfsmittel, die Verdauung zu fördern und Verstopfungen vorzubeugen, führten Letztere dazu, dass Gianluca bald als Wunderkind angesehen wurde, weil er mit vier Jahren bereits komplizierte Berechnungen im Kopf ausführen, Schach spielen und die Überschriften der Tageszeitungen
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