Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
rannten sie jetzt durch den sich abkühlenden Sand. Was auch immer sie ein paar Tage zuvor gegeneinander aufgebracht hatte, es schien vergessen. Sie wechselten ein paar Worte mit Lidia, die ihren gelben Sonnenschirm aufgespannt hatte und in einem weißen Sommerkleid etwas abseits auf einer Decke saß, und warfen sich dann noch heftig atmend auf ihre Liegen.
Maximilian lehnte sich zurück. Block und Brille lagen auf dem kleinen Beistelltisch. Er blinzelte. Ohne Brille konnte er die Szene vor sich nur undeutlich erkennen, und doch war er sich sicher, dass sie jener vom Vortag glich, jener von vorgestern oder dem Tag davor. Es machte keinen Unterschied. Und plötzlich meinte er, schon Wochen und Monate hier zu sein, hier an diesem Ort, an diesem Strand. Das Meer, die Wellen, die auf- und abrollten, die Gezeiten, die im steten Wechsel das Wasser um wenige Zentimeter hoben und senkten, die immer währende Wiederholung des Gleichen schien ihn einzubeziehen, zu einem Teil ihrer selbst zu machen, und so schienen sich auch seine Tage zu wiederholen, zu vervielfältigen. Doch das war nichts, was ihn beunruhigte. Im Gegenteil, im Augenblick wünschte er sich geradezu, die Zeit anhalten zu können, er wünschte sich, er könne mit Hilfe des Meeres diesen Sommer zu einer kleinen Ewigkeit dehnen. Er war so schnell heimisch geworden, dass er am liebsten gar nicht an das weit entfernte und doch absehbare Ende denken wollte. Dann, wenn der Sommer zu Ende gegangen wäre, die anderen abgereist wären und auch er auf dem Bahnhof stünde, nur mit seinen Koffern und seinen Erinnerungen.
Er blinzelte in die Sonne. Heute war es zum ersten Mal richtig heiß gewesen. Der Sommer kündigte sich an. Vom offenen Meer her näherte sich ein Frachter. Vielleicht war es auch ein Kriegsschiff, das den nahen Marinestützpunkt anlief. Aus der Entfernung war der Unterschied nicht auszumachen. Noch war das Schiff nur ein Punkt auf der Horizontlinie, und der Rauch der Schornsteine die dünne Linie, die ihm folgte, Täler und Berge bildete, dazwischen kleine Wolken, die senkrecht hinaufstiegen und wie Ausrufezeichen am Himmel standen. Es war fast windstill. Obwohl die Mittagshitze nachgelassen hatte und er im Schatten saß, fühlte Maximilian, wie die Schweißtropfen seinen Nacken hinunterliefen.
Bis auf das Schiff, das langsam nach Nordosten kroch, schien das Wasser vor ihm leer und endlos. Schwer zu glauben, dass irgendwo dort draußen Korsika lag, eine Küstenlinie, die vom Strand und im Sommer niemals zu sehen war. An klaren Wintertagen und aus der Höhe der Berge sollte er später manchmal das Glück haben, auf jene Bergspitzen zu schauen, die für wenige Stunden aufzutauchen schienen. Ein geheimnisvolles Land, das kam und ging, als sei es eine Luftspiegelung, das sich näherte und entfernte, das er dort wusste, aber dort nicht fühlen konnte. Es blieb ein Phantom.
Vielleicht war es diese Stimmung, die ihn an Vieri denken ließ. Und er fragte sich, wie es wohl wäre, auf dieses Meer hinauszufliegen, immer weiter hinaus, um zu sehen, ob es dieses sagenhafte Korsika gab, ob es tatsächlich etwas anderes gab als Wasser. War auch Vieri an jenem Tag im ersten Nachkriegsjahr hinausgeflogen mit seinem neuen Flugzeug, dem schnellsten, das je gebaut wurde, um die Unendlichkeit des Meeres auszumessen? Nicht auf der Suche nach Land, denn ein Korsika gab es dort nicht, und Afrika war weit. Nicht auf der Suche nach etwas. Einfach nur immer geradeaus, bis das Meer sich in alle Richtungen so weit erstreckte, dass es müßig gewesen wäre, die Entfernung zur nächstliegenden Küste zu berechnen, an Land überhaupt zu denken. Was musste das für ein Gefühl sein, mit einem so schnellen Flugzeug über das Meer zu fliegen und zu wissen, dass es unendlich groß war, dass es um vieles größer war, als die Strecke, die einem noch blieb, dass es keinen Unterschied machte, ob man schnell flog oder langsam, nach Norden oder Süden? Es war groß genug, um einem die Gewissheit zu geben, dass irgendwann das Benzin zu Ende ginge, dass man hinunter musste, noch bevor Land auch nur in Sicht wäre, unendlich groß.
An diesem Nachmittag beschloss Maximilian, über Vieri zu schreiben. Am Abend sollte der erste Salon stattfinden. Lidia war schon vor einer Weile zurückgegangen, um sich umzuziehen und die letzten Vorbereitungen für ihr kleines Konzert zu treffen. Übernächste Woche stand seine eigene Lesung auf dem Programm. Dann wollte er von Vieri erzählen.
3. Kapitel
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