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Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)

Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)

Titel: Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marco Lalli
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auch wenn sie später erfuhr, dass es häufiger geflügelte Bomben gewesen waren, die er mit sicherer Hand  auf eine Geschützstellung oder in einen Schützengraben hatte fallen lassen.
    So wie Vieris blaue Augen immer auf eine unbestimmte Ferne gerichtet schienen, so wurde Vieri selbst, wurde sein Foto in dem billigen Rahmen zu etwas, was sich entfernte, Jahr für Jahr immer undeutlicher zu sehen und zu spüren war, ohne jemals ganz zu verschwinden. Er blieb der Traum ihrer Kindheit, eine Sehnsucht, der sie zeitlebens nachhing und die irgendwann für alles stand, was sie verloren hatte, für alles, was unwiederbringlich Vergangenheit geworden war. Merkwürdigerweise sollte später auch ihr Sohn, sollten sogar die Enkel Ähnliches empfinden. Selbst wenn sie jenen Vieri nicht gekannt hatten, den Vieri, den nur die Schwester im Herzen trug, die Schwester und die Mutter vielleicht, so streifte sie mehr als einmal die Ahnung, was er ihr bedeutet hatte, blieb das vergilbte Foto für sie das Fenster in eine ungelebte Vergangenheit.
    Es war noch keine Woche seit seiner Ankunft vergangen, als Maximilian Vieris Bild zum ersten Mal sah. Er stand in Lauras Mansardenzimmer. Das Fenster war halb geöffnet, und das Meer schien hier oben viel näher zu sein, als im ersten Stock, dort, wo er selbst untergebracht war. Der Wind hatte nachgelassen, und die Wellen, die am Vorabend noch hoch aufgetürmt den Strand heraufgerollt waren und mit dumpfen Grollen die Gischt landwärts geschoben hatten, bildeten nur noch vereinzelte Schaumkronen. Das Zimmer war eng, und er ging vom Fenster vorsichtig zurück, um nicht gegen das ordentlich bezogene Bett oder den Stuhl zu stoßen, auf dem die Schüssel mit dem frischen Waschwasser stand. Während er auf sie wartete, betrachtete er eingehend die wenigen Habseligkeiten, die auf der schwarzen Marmorplatte ihrer Kommode aufgereiht waren. Das eiserne Kruzifix, ein silbernes Kettchen mit einem Marienanhänger, ein Fläschchen Lavendelöl, zwei Bücher ihm unbekannter Autoren, eine Spieluhr und die beiden Fotos. Eines war offenbar das Hochzeitsfoto der Eltern, das neuere Bild zeigte den jungen uniformierten Mann. Es stand genau in der Mitte vor dem Kruzifix, und für einen Augenblick befiel Maximilian das Gefühl, vor einem Altar zu stehen.
    Warum er alles genau untersuchte, in die Hand nahm, drehte und wendete, sogar daran roch, wusste er selbst nicht. Zuerst war es vielleicht die Nervosität gewesen, die ihn angesichts der bevorstehenden Begegnung mit Laura erfüllte, eine Unruhe, von der er sich ablenken wollte, später dann Neugier. Hier, an ihrem persönlichsten Ort, schien jeder Gegenstand, jede Falte ihres Bettbezugs Bedeutung zu verströmen, etwas ungemein Wichtiges, ja, Einmaliges, über sie zu verraten. Je länger er sich in dem kleinen Zimmer aufhielt, umso mehr glaubte er, sie zu verstehen, ihr nahe zu sein, umso eindringlicher suchte er nach weiteren Zeichen, die er zu deuten versuchte, als könne er an diesem Tag, an diesem Ort, alles über sie erfahren.
    Doch dann nahm er Vieris Fotografie in die Hand, und so fand ihn Laura vor. Sekunden oder Minuten später, er hätte es nicht zu sagen gewusst. Die Augen! So wenig Ähnlichkeit der italienische Soldat mit seinem Freund Georg hatte, der eine blond und schmal, der andere dunkel und muskulös, so vertraut waren ihm diese unsteten Augen. Augen, die auf der Flucht schienen, die schon längst in einer fremden Welt weilten, während der Körper noch verdammt war, zurückzubleiben.
    Zuerst meinte er, ein Bild von Lauras Verlobten vor sich zu haben, und ein kleiner Stich durchfuhr ihn. Sicherlich war sie ihm schon seit Jahren versprochen, und er stellte sich Laura vor, wie sie morgens und abends die Fotografie an ihr Herz presste und von dem Soldaten träumte, der irgendwo in Dalmatien für Italiens Ruhm sein Leben wagte. Wenige Augenblicke genügten, um die ganze Geschichte auszuspinnen, die Anfänge zu phantasieren, das Leben, das die beiden erwartete, die gemeinsamen Kinder. Und so traurig ihn diese Vorstellung machte, Eifersucht empfand er nicht. Dafür ähnelte der Fremde Georg zu sehr.
    „Das ist mein Bruder.“ Laura stand hinter ihm, und später war er ihr dankbar dafür, dass sie die Gegenwartsform benutzt hatte, dass er zuerst dem lebenden Vieri begegnet war.
    Wie so oft in den nächsten Wochen und Monaten gingen sie auch dieses erste Mal hinunter zum Strand. Sie machten einen langen Spaziergang den sandigen Weg hinunter bis zur

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