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Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)

Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)

Titel: Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marco Lalli
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trocknete Wangen und Augen. „Und weißt du, was merkwürdig ist? Obwohl es alle gewusst haben, alle, nur wir nicht, sie konnten nicht weiter machen! Als hätten wir einen geheimnisvollen Zauber durchbrochen, stand plötzlich nur noch ein leerer Sarg vor ihnen, ein Stück Holz, mehr nicht. Warum sollte man ein Stück Holz beerdigen? Wir liefen zurück in die Stadt, zum Bahnhof, und sie standen da auf ihrem Hügel, und die Fahnen knatterten im Wind, und sie liefen durcheinander wie ein Haufen weißer Pinguine um diesen entsetzlich leeren Sarg.“ Sie schniefte. „Das ist der Grund, warum es kein Grab gibt, keinen Grabstein, nicht einmal eine Tafel, nicht hier oder irgendwo sonst. Mein Bruder ist überall, an jedem Strand, an dem ich bin, in jedem Zimmer, wo ich sein Bild aufstelle.“
     

10. Kapitel
     
    Obgleich noch mitten im Sommer stellte Mariä Himmelfahrt unbestreitbar einen Gipfel dar, von dem aus es nur noch bergab gehen konnte.
    Es war heiß, fast genauso heiß wie vorher, und doch, mit den kürzer werdenden Tagen, der flacher stehenden Sonne schien auch der Sommer zu schwinden. Es war ein unmerklicher, aber unaufhaltsamer Vorgang, der Hand in Hand mit den sich leerenden Feldern ging, dem Wein, der von den Reben verschwand, den Geschäften, die eines nach dem anderen wieder öffneten, den Städten, in denen das Leben langsam erwachte. Als wollten sie diesem langen Todeskampf nicht bis zum bitteren Ende beiwohnen, kehrten die Menschen dem Meer schon frühzeitig den Rücken. Sie ergaben sich in ihr Schicksal, obwohl das neue Schuljahr noch fern war und auch die Arbeit den einen oder anderen Tag hätte warten können. Wer blieb, trotzig dachte, das Mögliche bis zuletzt auskosten zu können, sah sich bald enttäuscht. Sonne und Meer allein machten noch keinen Sommer, und die verlassenen Strände, die frühzeitig winterfest gemachten Bäder, die geschlossenen Pensionen und Hotels hatten nichts mehr mit jenen Stätten gemein, die erst wenige Wochen vorher ein einziges Versprechen gewesen waren, ein Versprechen, das hungrig gemacht hatte, so rastlos hungrig, wie nur ein endloser Sommer machen kann. In diesen Tagen füllte eine Schwermut die Luft, die man zu atmen meinte, roch man die salzige Feuchte der Abende, den harzigen Duft der Pinien, den bittersüßen Qualm der Feuer, in denen die Bauern ihre Grünabfälle verbrannten.
    Sie hatten am Hafen gesessen, auf einem rötlich schimmernden Block Breccia . Die Fledermäuse umschwirrten die Lampen, die auf den Kaimauern schaukelten, und ihre zirpenden Laute vermischten sich mit dem aufgeregten Brausen der Menschen ringsum. Maximilian hielt Lauras Hand, abwesend wie den ganzen Tag schon, den Blick auf die gegenüberliegende Hafenmole gerichtet, wo die Späne schon glimmten, mit denen das Feuerwerk gezündet würde.
    "Ich muss zurück", hatte er schließlich gesagt. "Ich kann nicht ohne ein Wort verschwinden, mich fortstehlen wie ein Dieb, einfach so. Das verstehst du doch?" - "Du wirst nicht zurückkommen", hatte sie geantwortet, und er hatte gelacht und sie in den Arm genommen. "Nur ein paar Wochen, einen Monat, um alles zu richten", hatte er gesagt. "Goldschmidt, der Verlag..." - "Und Anne", hatte sie hinzugefügt. Ja, wegen Anne natürlich auch, sie seien schließlich verlobt. "Wir sind auch verlobt", hatte sie gesagt, leise. "Ich komme zurück, ich verspreche es dir", und dann hatte er ihr in die Augen geschaut: "Warte auf mich, Laura." Es waren die gleichen traurigen Augen, die ihr damals bei ihrer ersten Begegnung im Korridor der Pension begegnet waren, der gleiche ernste, fast ängstliche Blick, und für die kurze Spanne, die sie diese Augen sah, glaubte sie ihm. So hatte sie auf ihre über dem Bauch gefalteten Hände gestarrt und gesagt: "Gut, ich werde warten. Ich werde bis Weihnachten warten", und dann war die alte Kanone am Fort abgeschossen worden, und das Feuerwerk hatte begonnen.
    Am 12. August war Stefano untergetaucht. Man sagte sich, er sei in die Berge gegangen, so wie es woanders geheißen hätte, in die Wälder oder in die Sümpfe, dorthin, wo man geht, wenn man nicht gefunden werden will. Er war nicht einfach verschwunden wie das erste Mal. Er hatte ein kleines Bündel gepackt, hatte sich von den Eltern, von den Schwestern verabschiedet, und die Mutter, die Concetta das Zwiebelmesser aus der Hand riss, hatte einen Grund mehr, ihren Tränen freien Lauf zu lassen, dachte sie an ihre Kinder. Vieri tot, Tea in ihrer unbegreiflichen Welt gefangen,

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