Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
ausgeschnitten und dann mit cocoina verleimt werden mussten, einem Klebstoff, den der Großvater mitbrachte und dem man nachsagte, aus Knochenmehl gewonnen zu sein, und den Vieri deshalb liebte, weil er nach Honig und Mandeln schmeckte.
Doch am liebsten spielte er Räuber und Gendarm in der zeitgenössischen Fassung Abessinier gegen Italiener. Dann schwärzte er sich sein Gesicht mit einem Kohlestück, und mit erhobenem Holzschwert ging es gegen die Bürgersöhne, die in ihren detailgetreuen Generalsuniformen und unter den blechernen Helmen schwitzten. Bevor diese ihre originalgroße und fast ebenso schwere Nachbildung des 91er-Sturmgewehrs nachgeladen hatten, konnte er ihnen meistens schon den Todesstoß versetzen. Das tröstete ihn über seine unpatriotische Rolle hinweg, und so blieb die offizielle Balilla-Uniform die einzige Unform, die er sich sehnlichst wünschte.
Mit dreizehn Jahren wurde er bagascio im Bergwerk seines Vaters, eine Art Lehrling, der Seile und Hölzer trug und für wenige Lire im Monat putzte und aufräumte und all das tat, was sonst niemand tun wollte. Gegen den Widerstand der Mutter verließ er die Schule, da aber Sandro sich mit der Bemerkung auf seine Seite stellte, sein Sohn brauche nichts Besseres zu werden als er selbst, standen sie fortan beide kurz nach vier Uhr auf, um sich an der Brücke der Lügen - niemand wusste, warum sie so hieß - mit den anderen Arbeitern zu treffen und sich gemeinsam auf den endlosen Weg in die Berge zu machen.
Vieri genoss die Kameradschaft der Marmorarbeiter, die gemeinsamen Mahlzeiten, die irgendwo auf dem Weg zwischen Steinbruch und Verteilerstation auf dem nackten Stein eingenommen wurden, trockenes Brot, Tomaten, Klipp- oder Stockfisch, selten etwas anderes, den Jubel nach einer gewonnenen riffa , einem jener abenteuerlichen Wettrennen, bei dem es darum ging, den Block vor den Arbeitern des benachbarten Bergwerks als Erste zum Umladeplatz zu schaffen, und wenn der Krieg nicht ausgebrochen wäre, dann hätte er wahrscheinlich wie Vater und Großvater und andere Generationen vor ihnen den Beruf des lizzatore ergriffen, einen Beruf, den er schon zu beherrschen glaubte.
Marmor war kein kriegswichtiges Gut, und mit den Männern, die ins Feld zogen, verwaisten auch die Steinbrüche. Sandro verschlug es zuerst nach Griechenland, dann an die Ostfront. Vieri blieb mit einigen Alten zurück. Wenn sie nicht briscola spielten oder ihr steinhartes Brot in Wasser tunkten, um es besser essen zu können, fetteten sie das Werkzeug ein, sägten Hölzer zurecht, räumten auf und putzten. Nach dem Willen von Walden, Good & Gripps, der Betreibergesellschaft, sollte die Produktion schon bald nach dem Ende des Krieges in vollem Umfang wieder aufgenommen werden, ein Ende, das von Monat zu Monat in eine immer weitere Ferne rückte. Irgendwann wurde das Bergwerk ganz geschlossen. Nur ein pensionierter Polizist blieb als einsamer Wächter zurück.
Die Nachricht von der Ankunft Maximilian von Kampens verbreitete sich schnell. Schon nach wenigen Tagen wusste es an der Küste jeder, den es interessierte oder der etwas mit seinem Namen verband. Es bedurfte nicht einmal der Kunstfertigkeit der unvergessenen Concetta. Ein neuer deutscher Verbindungsoffizier musste im Drunter und Drüber der ersten Besatzungstage zwangsläufig zum Tagesgespräch werden.
Dass man von den Deutschen im Allgemeinen wenig Gutes erwarten konnte, darüber war man sich weithin einig, sah man von den sich neu formierenden faschistischen Milizen ab, die die Chance witterten, unter dem Schutz von Wehrmacht und SS gründlich mit Kommunisten, Sozialisten, Republikanern, Anarchisten, mit Fahnenflüchtigen und Kriegsmüden aufzuräumen. Die wenigen, die Maximilian persönlich begegnet waren, schwankten zwischen der Hoffnung, jemand, der Italien kennen und lieben gelernt habe, könne sich gar nicht gegen das Land und die Menschen versündigen, stecke er nun in einer deutschen Uniform oder nicht, und der Enttäuschung, ihn so offensichtlich auf der anderen Seite stehen zu sehen. So war Stefano, Lauras Bruder, nicht der Einzige, der den ehemaligen Pensionsgast mehrmals verächtlich als Verräter bezeichnete. Eine Einschätzung, die er einige Wochen später in einem langen Gespräch mit der Schwester weitgehend zurücknahm. Schließlich könne man es niemandem verübeln, für das eigene Vaterland einzutreten, und nicht jeder sei in der bevorzugten Lage des Italieners, frei zwischen einer faschistischen, einer
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