Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
Esszimmer.
Dort, wo nur sonntags oder bei besonderen Gelegenheiten gedeckt wurde, herrschte sommers wie winters ein kühles Halbdunkel, und wenn er sich hineinschlich, die quietschende Tür ganz vorsichtig öffnend, dann meinte er, in eine fremde und geheimnisvolle Welt einzutauchen. Es war die Zeit der Mittagsruhe, kein Laut drang aus den anderen Zimmern, aus den Wohnungen ringsum. Selbst die stets läutenden Glocken der zahlreichen Kirchen waren verstummt. Die Möbel waren schwarz und schwer, und er zählte die Löcher der Holzwürmer, steckte eine Nadel hinein, um sie auszumessen. Wenn dann die Anrichte knarrte oder die Standuhr mit dem langen polierten Pendel die Viertelstunde schlug, schrak er fröstelnd zusammen. Er öffnete die Schubladen, betrachtete das gute Service mit den Kamelen und Pyramiden, die ordentlich aufgereihten Kristallgläser, das durchscheinende Porzellan der Teetassen und nahm die silbernen Serviettenringe in die Hand, öffnete die Bonbonniere mit der Tänzerin, die es zu Vittorias Hochzeit für die Gäste gegeben hatte, in der Hoffnung eine letzte Hochzeitsmandel zu finden. Außer den Süßigkeiten oder den Keksen, die Laura in der untersten Schublade aufbewahrte, gab es kaum etwas, was in wirklich interessiert hätte. Vielleicht war es das Verbotene, das ihn lockte, die geheimnisvolle Welt der Erwachsenen, die er sich Schublade um Schublade, Schranktür um Schranktür erschloss, das Besondere, all jene Schätze, die Laura dem Alltag vorenthielt, als könnte tatsächlich einmal jemand anderes an ihrem Tisch sitzen, als nur Vater und Mutter, die Schwester und der vornehm tuende Schwager. So strich Vieri über die blütenweiße Tischdecke mit den Weihnachtskerzen, den gläsernen Parmesanbehälter mit dem silbernen Löffelchen, den farbig eingefärbten Haushaltskerzen, die stets sorgfältig zurecht geschnitten wurden, um sie bis zum Schluss verwenden zu können, nahm die bunten Figuren aus Muranoglas vorsichtig von der Anrichte und stellte sie auf wie zu einer Prozession. In der obersten Schublade lagen Spielkarten, normale französische oder englische und neapoletanische, wie sie die Arbeiter in der cantina benutzten, wenn sie briscola oder tresette spielten, und wenn Vieri die Karten auf dem Tisch ausgelegt hatte, staunte er über die merkwürdigen Symbole, Schwerter und Stöcke, Geldstücke so groß wie ein Wagenrad.
Manchmal nahm er auch die Fotografien in die Hand, suchte im Hochzeitsbild den fast kahlen Großvater, das zerfließende Gesicht der Großmutter. Nur der tote Onkel blieb, was er war. So wenig die Zeit seiner Fotografie etwas hatte anhaben können, sah man von dem sich verstärkenden Kupferton des Papiers ab, so wenig konnte er selbst altern. Stets war sein Haar voll, sein Schnauzbart schwarz. Seine hellen Augen blieben auf jenen fernen Punkt gerichtet, den nur er sehen konnte, ein landendes oder startendes Flugzeug vielleicht, während seine eigene Flugmaschine hinter ihm wartete, weiß und zerbrechlich wie ein Vogel.
Vieri wuchs wie andere Arbeiterkinder auf.
Um Viertel nach acht stand er vor dem Klassenzimmer stramm, bis der Klassensprecher dem Lehrer der ersten Stunde Meldung erstattet hatte und sie hineindurften. In der Frühstückspause wickelte er ein in Olivenöl getunktes Brot aus, das mit Salz bestreut war und das er mit ein wenig Glück gegen das Schokoladenbrötchen der Bürgersöhnchen tauschen konnte. Nachmittags gab es mit Zucker bestreutes Butterbrot.
Sein Spielzeug allerdings trug die Handschrift der wohlhabenderen Großeltern. Schon früh bekam er einen Metallbaukasten, dessen gelochte Aluminiumstreben mit allerlei Schrauben und Muttern gemäß der kaum verständlichen Montageanweisung zu luftigen Gebilden zusammenzubauen waren, Formen, die nur mit viel Phantasie als jene der Automobile, Schiffe oder gar Flugzeuge erkannt werden konnten, die die Abbildung auf der Verpackung zu sein vorgab. Zum Namenstag gab es den "Kleinen Schreiner", eine Laubsägeausrüstung, die Löcher und hässliche Druckstellen im Küchentisch zurückließ, später den "Kleinen Erfinder", unter dessen Anleitung mit Hilfe eines Metallröhrchens, eines Korkens und etwas erhitzten Wassers eine kümmerliche Kanone gebastelt werden konnte, die nicht nur das Geschoss über eine gewisse Entfernung zu schleudern vermochte, sondern auch die Hände mit der kochenden Flüssigkeit zu verbrühen pflegte. Jahrelang mühte er sich mit papiernen Flugzeugmodellen ab, deren Bestandteile erst mühsam
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