Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
die täglich auf seinem Schreibtisch landeten.
Was wäre gewesen, wenn er nicht nach Deutschland zurückgekehrt wäre? Er dachte an ihre gemeinsamen Pläne zurück, an die Träume, die sie mit liebestrunkenem Kopf geträumt hatten, und so unmöglich, sie ihm damals erschienen waren, jetzt meinte er, die Winzigkeit einer Möglichkeit darin zu sehen. War nicht schließlich einer dieser Träume Wirklichkeit geworden, hatte leibhaftig hier in diesem Gang vor ihm gestanden? Er dachte an Vieri, und obwohl er sein Sohn war, davon war er überzeugt, gab es nichts, woran er hätte anknüpfen können. Seit drei Monaten lebten Laura und er wie ein altes Ehepaar unter einem Dach, wenn sie auch nicht im gleichen Bett schliefen, doch waren diese achtzehn Jahre wie eine unüberwindliche Mauer.
„Hast du es ihm gesagt?“ hatte er sie später gefragt.
„Sandro weiß es, und Vieri wird es niemals erfahren“, hatte sie geantwortet.
Was ließ seine damaligen Entscheidungen so unabänderlich, so zwangsläufig erscheinen? Maximilian dachte an den lang vergessenen Krieg zurück, an den Großen Krieg, an den Krieg, der sich jetzt mit dem Zusatz „der Erste“ zu schmücken begann, jetzt, da der neuerliche Krieg ihn befördert hatte. Er dachte an den Augenblick, an dem Georg vorgetreten war, um für ihn in den Tod zu gehen, während er selbst wie gelähmt dagestanden hatte in der absoluten Gewissheit, nichts und niemand könne etwas daran ändern. Dabei hätte es nur eines Wortes bedurft, und der Hauptmann hätte ihn selbst geschickt.
Auch Laura dachte zurück. Auch sie hatte vom ersten Tag an gewusst, was auf sie zukäme, in seltsamer Klarheit und ohne dass sie sich dagegen hätte wehren können. Sicher, sie hatte gehofft, und es hatte sogar eine Zeit gegeben in jenen ausgedörrten Augusttagen, da sie zuversichtlich gewesen war, und doch hatte es keines Pendels bedurft, um in die Zukunft zu sehen.
Nur einmal, kurz vor dem Krieg hatte sie einen jener Experten aufgesucht, die sich im Dorf und an der ganzen Küste einer immer größeren Beliebtheit erfreuten.
Im gleichen Maße wie die Radiophonie ihren Siegeszug angetreten hatte und dank großzügiger staatlicher Subventionen in Gestalt von Mittel- und Kurzwellenempfängern Eingang in Küchen und Wohnzimmern fand, wuchs auch die Zahl der Anhänger der Radioästhesie. Was später abfällig als Rutengängerei bezeichnet werden sollte, war in den Jahren vor dem Krieg eine fast exakte Wissenschaft, so gewichtig und kompliziert, dass sie den Männern vorbehalten war, Technikern vorzugsweise, Geometern oder Mathematikern, was Concetta in den letzten Jahren ihres Lebens zu langen Tiraden Anlass gab, in denen sie die Pendelei, wie sie sich ausdrückte, aufs schärfste als neumodische Scharlatanerie verurteilte, sah sie sich doch in ihrem ureigenen Bereich bedroht.
Vielleicht nutzte die Werbung, die „übersinnliche Kräfte“ ins Feld führte, bewusst die sprachliche Nähe zur Radiophonie, den elektromagnetischen Wellen, die den Alltag zu revolutionieren versprachen, vielleicht war es die Unwissenheit der Menschen, die auf Grund der Wortähnlichkeit gleiche Wirkmechanismen unterstellten, eine neu im Entstehen begriffene technische Umwälzung vermuteten, nur vergleichbar mit der Erfindung der Glühlampe, des Telefons oder der c ucina economica , des modernen Küchenherdes. Jedenfalls bestand kein Zweifel daran, dass die Verwendung eines Pendels ein höchst rationales Mittel war, um verloren gegangene Gegenstände zu finden, Flüchtlinge und Vermisste aufzuspüren oder das Geschlecht eines Kindes noch vor der Geburt festzustellen; es bedurfte nur einer Fotografie der Betreffenden, und schon wusste man, ob die Ehefrau tatsächlich treu oder die Verlobte wie behauptet jungfräulich war. Der Anwendung erschloss sich ein weites Feld. So ganz nebenbei war es auch möglich, auf einer großen Europakarte den Standort der verbotenen ausländischen Sender zu ermitteln. Mit Magie, Okkultismus oder Ähnlichem hatte das nichts zu tun.
In der Zeit bevor Laura in Begleitung ihres Vaters den alten Mario aufsuchte, hatte sie oft an Maximilian gedacht. Vieri hatte seine Lehrzeit im Steinbruch begonnen, und sie war immer häufiger allein. Sie strickte und nähte, besserte Laken, Tischdecken und Handtücher für die Pension aus, und so wie jeder jedem, gab auch sie den Schülern in der Nachbarschaft Nachhilfeunterricht in den verschiedensten Fächern. Ein paar Lire die Stunde, die sie bitter nötig hatten.
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