Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
Die Frage, was aus Maximilian geworden war, ob er noch lebte, ob er Anne tatsächlich geheiratet hatte, begann sie zu verfolgen. Um zu schreiben oder anzurufen, war sie zu stolz, außerdem hatte sie Zweifel, dass er unter der angegebenen Adresse noch erreichbar war. Hinzu kam die Neugier auf die vielgerühmten Meister des Pendels, und als Piero wieder einmal von den Erfolgen seines Freundes Mario erzählte - dieser hatte unlängst einen im spanischen Bürgerkrieg Vermissten in der Nähe von Genua aufgespürt -, beschloss sie hinzugehen.
Mario war ledig und verbrachte seine Abende im Caffé degli Svizzeri in Monteforte. Seine Kunst war weithin bekannt, und so saß er selten lange genug allein da, um den Verdacht der faschistischen Spitzel zu erregen. Niemals verlangte er Geld, ließ sich aber gerne zu einem amaro oder einem g rigioverde , einem Grappa mit Minzlikör, einladen. Er war weder homosexuell noch sonst wie gescheitert, was das Regime von einem Junggesellen sofort anzunehmen schien, und einige Jahre älter als Piero. Er war gelernter Maurer, man nannte ihn aber den ingegniere , weil er jahrelang im Auftrag der Bezirksregierung in den Bergen herumgestiegen war, um die Notwendigkeit von Ausbesserungsarbeiten an den vom großen Erdbeben beschädigten Häusern abzuklären, Pläne, die selten in die Tat umgesetzt wurden. Dennoch war er beliebt, und wie er mit dem Kaffeelöffel in der Hand über seine Rätselzeitung gebeugt dasaß, ein würdiger, grauhaariger Herr, der auch als pensionierter Lehrer oder als Kassierer der Filiale der Banca d’Italia in Massa durchgegangen wäre, flößte er auch Laura sofort Vertrauen ein.
Vorsichtig nahm er das Pendel aus seinem Kästchen. Es bestand aus Kupfer, Blei und Stahl und war mit Bakelit überzogen, einer Art künstlichem Harz. Laura hatte Maximilians Fotografie auf den Tisch gelegt. Das Foto war beim Volksfest anlässlich des Fundes des Monolithen von einem Fotografen aufgenommen worden. Ursprünglich war auch Laura darauf zu sehen gewesen. Sie hatte es mit einer Schere entzweigeschnitten, sorgsam darauf achtend, die Darstellung des Deutschen nicht zu verstümmeln – man wusste ja nicht, wie empfindlich so ein Pendel war. Jetzt lag das Bild da, ein unbegreiflich junger Maximilian, der verlegen in die Kamera lächelte. Der ingegniere hielt das Pendel eine Handbreit darüber. Noch unbeweglich hing es an seinem dünnen Faden zwischen Daumen und Zeigefinger. Es müsste die Aufgabe erst verstehen. Er sagte es , und meinte das Pendel, denn schließlich war der Mensch nichts als ein demütiger Diener der Technik. Nur diese sei in der Lage, die Aufgabe mit, wie Mario ausführte, mathematischer Präzision zu lösen. Nach einiger Zeit begann das Pendel langsam im Uhrzeigersinn zu kreisen. Ja, dieser Mann lebe in Hamburg – hatte sie das erwähnt? – er sei verheiratet und habe zwei Kinder, nein, drei, verbesserte er sich bald, als das Pendel nervös zu zittern begann, zwei Buben und ein Mädchen. Zufrieden lächelnd lehnte er sich zurück, trank den a maro , den der Kellner unverzüglich gebracht hatte, und begann weitschweifig von der Sitzung mit der Signora Musetti zu erzählen. Diese habe doch tatsächlich...
Möglich, dass das genau die Antwort war, die sie hören wollte. Die Unruhe, die monatelang an ihr genagt hatte, verschwand schlagartig. Sie war erleichtert, wenn auch niedergeschlagen. Doch hielt sich diese Trauer in Grenzen. So als habe sie erfahren, dass ein unheilbar Kranker tatsächlich gestorben sei, allen Bemühungen zum Trotz. Es war ein absehbares Ende, ein Tod, den sie jahrelang in sich getragen hatte, ein Sterben, das sie immer aufs neue hinausgezögert hatte und jetzt endlich zulassen wollte.
Umso überraschter hatte sie Maximilians Rückkehr aufgenommen, eine Rückkehr, die keine war, das beeilte sie sich zu vergegenwärtigen, denn sicherlich stand sie in keinem Zusammenhang mit ihrer Person oder der zusammen verbrachten Zeit, vom gemeinsamen Sohn ganz zu schweigen. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt vor der Geschichte mit dem Pendel hätte sie vielleicht anders reagiert. Jetzt aber, da sie abgeschlossen zu haben glaubte, fühlte sie nichts, nichts als Erstaunen. Und selbst dieses Erstaunen war austauschbar. Zu oft waren in diesem Krieg Dinge geschehen, die sie für unmöglich gehalten hatte, und so wie der Krieg ein andauernder Ausnahmezustand zu sein schien, war für sie auch Maximilians Ankunft ein Ereignis, das nicht zu erklären war und über das lange
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