Die Nachtwächter
Taschentuch ins Licht. »Dunkelgrün«,
sagte die Frau. »Seltsam. Soweit ich weiß, hast du bei der Prüfung in
heimlichem Bewegen null Punkte erzielt.«
»Darf ich fragen, wie du das herausgefunden hast, Madame?«
»Oh, man hört das eine oder andere«, erwiderte Madame. »Man muss
sich nur Geld ans Ohr halten.«
»Nun, es stimmt«, sagte der Assassine.
»Und warum?«
»Der Prüfer glaubte, ich hätte Tricks angewandt, Madame.«
»Und hast du das?«
»Natürlich. Ich dachte, genau darum ginge es.«
»Und er meint, du hättest nie seinen Unterricht besucht.«
»Oh, ich bin immer da gewesen und habe sehr aufmerksam zugehört.«
»Er meint, er hätte dich nie gesehen.«
Havelock lächelte. »Und das bedeutet, Madame…?«
Madame lachte. »Möchtest du ein Glas Sekt?« Ein leises Klirren
deutete darauf hin, dass sich eine Flasche in einem Eiskübel bewegte.
»Danke, nein, Madame.«
»Wie du meinst. Ich genehmige mir eins. Und nun… Bitte erstatte mir
Bericht.«
»Ich kann kaum glauben, was ich gesehen habe. Ich hielt den
Burschen zunächst für einen Schläger. Und das ist er auch. Man kann
sehen, wie die Muskeln für ihn denken. Aber er gewinnt immer die
Oberhand über sie! Ich glaube, ich habe ein Genie beobachtet, aber…«
»Was?«
»Er ist nur ein Feldwebel, Madame.«
»Oberfeldwebel. Unterschätze ihn nicht. Ein sehr nützlicher Rang für
den richtigen Mann. Die optimale Balance zwischen Macht und
Verantwortung. Übrigens heißt es, dass er die Straße durch die Sohlen
seiner Stiefel erkennen kann, und deshalb ist er darauf bedacht, dass sie
dünn bleiben.«
»Hm. Das Pflaster ist überall unterschiedlich, das stimmt, aber…«
»Du bist immer so ernst mit diesen Dingen, Havelock. Ganz anders
als dein verstorbener Vater. Denk… mythologisch. Er kann die Straße
erkennen. Er hört ihre Stimme, misst ihre Temperatur und liest ihre Gedanken. Sie spricht durch seine Stiefel zu ihm. Polizisten sind
genauso abergläubisch wie andere Leute. Heute Nacht sind al e anderen
Wachhäuser angegriffen worden. Schwungs Leute haben es
angestachelt, aber Bosheit und Dummheit haben den größten Schaden
angerichtet. Doch nicht in der Sirupminenstraße. Keel öffnete die
Türen und ließ die Straße herein. Ich wünschte, ich wüsste mehr über
ihn. In Pseudopolis galt er als langsam, nachdenklich und vernünftig.
Hier scheint er regelrecht aufgeblüht zu sein.«
»Ich habe einen Mann inhumiert, der versuchte, ihn aus dem
Hinterhalt zu erledigen.«
»Tatsächlich? Das klingt nicht nach Schwung. Wie viel schulde ich
dir?«
Der junge Mann namens Havelock zuckte mit den Schultern. »Einen
Dol ar«, sagte er.
»Das ist sehr wenig.«
»Der Bursche war nicht mehr wert. Aber ich muss dich warnen.
Vielleicht möchtest du bald, dass ich mich um Keel kümmere.«
»Jemand wie er schlägt sich bestimmt nicht auf die Seite von Winder
und Schwung.«
»Er ist seine eigene Seite. Er ist eine Komplikation. Vielleicht wäre es
besser, wenn er… aufhört, die Dinge zu verkomplizieren.«
Das Rumpeln der Kutsche unterstrich die Stille, die diesen Worten
folgte. Die Fahrt ging jetzt durch einen wohlhabenderen Teil der Stadt,
der heller erleuchtet war und wo man die für arme Leute bestimmte
Ausgangssperre nicht so streng beachtete. Die dem Assassinen
gegenüber sitzende Frau streichelte die Katze auf ihrem Schoß.
»Nein«, sagte Madame. »Er wird nützlich sein. Al e erzählen mir von
Keel. In einer Welt, in der wir uns in Kurven bewegen, schreitet er auf
einer geraden Linie voran. Und wer in einer Welt aus Kurven geradeaus
geht, lässt Dinge geschehen.«
Erneut streichelte sie die leise schnurrende Katze. Sie war rötlich gelb
und wirkte erstaunlich selbstgefällig, obwohl sie sich gelegentlich am
Halsband kratzte.
»Eine andere Sache…«, sagte die Frau. »Was ist mit dem Buch? Ich
möchte kein Aufsehen erregen.«
»Oh, es war sehr selten und behandelte die Kunst der
Unauffälligkeit.«
»Der dumme Junge hat es verbrannt!«
»Ja. Zum Glück. Ich dachte schon, er würde das Buch lesen.«
Havelock lächelte dünn. »Allerdings hätte ihm bei den längeren Worten
jemand helfen müssen.«
»War es wertvoll?«
»Unbezahlbar. Besonders jetzt, nachdem es verbrannt ist.«
»Ah. Es enthielt wichtige Informationen. Vermutlich auch über die
dunkelgrüne Farbe. Erzählst du mir davon?«
»Ich könnte dir davon erzählen.« Havelock lächelte erneut. »Aber dann müsste ich
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