Die Nachtwächter
Dol ar geben!«
Mumm wagte es nicht, Rasen anzusehen. »Tatsächlich?«, erwiderte er
so unschuldig wie möglich. »Und du hast das Ingwerbier?«
»Sechs Halbe vom Besten«, sagte Colon. »Auf die Flaschen gibt es
übrigens drei Cent Pfand. Und, äh…« Er scharrte unsicher mit den
Füßen. »Ich, äh, habe gehört, dass man das Wachhaus bei den Tollen
Schwestern in Brand gesetzt hat, Oberfeldwebel. Beim Schlummerhügel
sieht’s ebenfalls ziemlich übel aus. Und, äh… beim Wachhaus in der
Kröselstraße sind al e Fenster zerbrochen, und drüben beim Geringsten
Tor verließen einige Wächter das Wachhaus, um junge Leute daran zu
hindern, mit Steinen zu werfen, und einer von ihnen zog sein Schwert,
Oberfeldwebel…«
»Und dann?«
»Er wird wahrscheinlich überleben, Oberfeldwebel.«
Doktor Rasen sah sich im Hauptbüro um, in dem noch immer Leute
miteinander sprachen. Schnauzi ging mit einem Tablett herum und bot
Kakao an. Draußen leisteten einige Wächter dem Rest der Menge an
einem wärmenden Feuer Gesel schaft.
»Ich muss sagen, ich bin beeindruckt«, meinte er. »Offenbar ist dies
das einzige Wachhaus, das in dieser Nacht nicht belagert wird. Ich
möchte nicht wissen, wie du das fertig gebracht hast.«
»Glück war dabei im Spiel«, erwiderte Mumm. »Und ich habe drei
Männer in den Zel en, die sich nicht ausweisen können, und einen
anonymen Möchtegern-Mörder, der ermordet wurde.«
»Ein ziemliches Problem«, sagte Rasen. »Ich bin nur mit so einfachen
Mysterien konfrontiert wie mit der Frage, was ein bestimmter
Hautausschlag bedeutet.«
»Ich bin entschlossen, mein Problem so bald wie möglich zu lösen«, sagte Mumm.
Der Assassine kletterte lautlos von Dach zu Dach, bis er ein ganzes
Stück von der Aufregung beim Wachhaus entfernt war.
Seine Bewegungen konnten durchaus katzenhaft genannt werden.
Allerdings markierte er seinen Weg nicht mit Urin.
Schließlich erreichte er eins der vielen Verstecke der oberen Welt.
Mehrere Dickichte aus Schornsteinen schufen hier einen kleinen,
geschützten Ort, der von unten aus nicht zu sehen war und auch in der
Dachlandschaft verborgen blieb. Der Assassine betrat ihn nicht sofort,
sondern schlich erst um ihn herum, bewegte sich völ ig geräuschlos von
einem Aussichtspunkt zum nächsten.
Ein Beobachter, der die Assassinengilde von Ankh-Morpork kannte,
wäre von der Unsichtbarkeit dieser Gestalt erstaunt gewesen. Wenn sie sich bewegte, sah man Bewegung. Wenn sie verharrte, existierte sie
nicht mehr. Der Beobachter hätte Magie vermutet, und Magie spielte
tatsächlich eine Rol e, wenn auch eine indirekte. Neunzig Prozent der
meisten Magie gehen auf das Wissen um eine zusätzliche Tatsache
zurück.
Schließlich schien der Assassine zufrieden zu sein und betrat den
geschützten Ort. Er griff nach einem Beutel, der zwischen den
rauchenden Schornsteinen lag, und leises Knistern verriet, dass er sich
umzog.
Etwa eine Minute später verließ er das Versteck, und jetzt war er
sichtbar. Dem hypothetischen Beobachter wäre es noch immer schwer
gefallen, ihn zu erkennen, als einen Schatten unter vielen, aber jetzt
existierte er, auf andere Weise als vorher. Vorher war er so sichtbar gewesen wie der Wind.
Leichtfüßig sprang er auf das Dach eines Schuppens hinab und dann
auf die Straße, wo er in einen nahen Schatten trat. Dort verwandelte er
sich erneut.
Dies nahm nicht viel Zeit in Anspruch. Die praktische kleine
Armbrust wurde auseinander genommen und in den einzelnen Taschen
eines Samtbeutels verstaut, in dem sie garantiert nicht klimpern konnte.
Die weichen Lederschuhe wurden gegen ein Paar Stiefel eingetauscht,
das im Schatten gewartet hatte. Hände strichen die schwarze Kapuze
zurück.
Schließlich trat die Gestalt um eine Ecke und wartete.
Eine Kutsche näherte sich mit brennenden Fackeln. Sie wurde kurz
langsamer, und eine Tür öffnete und schloss sich.
Der Assassine lehnte sich auf der Sitzbank zurück, als die Kutsche
wieder schneller rol te.
In ihrem Innern ließ eine kleine Laterne, von der ein wenig Licht ausging, eine Frau erkennen, die auf der anderen Seite saß. Als die
Kutsche eine Straßenlaterne passierte, war violette Seide zu erahnen.
»Du hast einiges versäumt«, sagte die Frau. Sie holte ein violettes
Taschentuch hervor und hielt es vor das Gesicht des jungen Mannes.
»Spuck«, befahl sie.
Er kam der Aufforderung widerstrebend nach. Eine Hand wischte
seine Wange ab und hielt das
Weitere Kostenlose Bücher