Die Nachtwächter
mehr
viele Freunde haben.« Sie trank ihren Becher aus. »Doktor Fol ett ist ein
sehr reizender Mann, findest du nicht? Weißt du zufälligerweise, ob er
sein eigenes Haar trägt?«
»Ich hatte noch keine Gelegenheit, das herauszufinden«, sagte
Havelock. »Versucht er, dich betrunken zu machen?«
»Ja«, erwiderte Madame. »Man muss ihn bewundern.«
»Es heißt, er kann recht gemein sein«, sagte Havelock.
»Interessant«, entgegnete Madame.
Sie ließ ein offenes, ehrliches Lächeln auf ihren Lippen erscheinen
und öffnete die große Doppeltür auf der anderen Seite des Zimmers.
»Ah, Doktor«, sagte sie und trat in den Dunst aus Zigarrenrauch. »Noch
etwas Sekt?«
Mumm schlief in einer Ecke, im Stehen. Ein alter Trick, den
Angehörige der Nachtwache und Pferde beherrschten. Es war kein
echter Schlaf – man riskierte den Tod, wenn man mehrere Nächte
hintereinander damit auszukommen versuchte –, aber es vertrieb einen
Teil der Müdigkeit.
Einige der anderen Männer hatten den Trick bereits gelernt. Andere
benutzten Tische oder Sitzbänke. Niemand schien nach Hause gehen
zu wol en, nicht einmal dann, als das Licht der Morgendämmerung
durch den Regen glitt und Schnauzi mit grässlichem Brei hereinkam.
Mumm öffnete die Augen.
»Ein Becher Tee, Chef?«, fragte Schnauzi. »Eine Stunde gekocht und
mit zwei Würfeln Zucker.«
»Du bist ein Lebensretter, Schnauzi«, sagte Mumm und griff nach
dem Becher, als enthielte er ein Lebenselixier.
»Und draußen ist ein Junge, der dich, hnah, persönlich sprechen
möchte«, fügte Schnauzi hinzu. »Soll ich ihm einen Satz rote Ohren
verpassen?«
»Wie riecht er?«, fragte Mumm und nippte an dem heißen, ätzenden
Tee.
»Wie der Boden eines Paviankäfigs, Chef.«
»Ah, Nobby Nobbs. Ich gehe nach draußen und rede mit ihm. Bring
ihm einen großen Tel er Brei.«
Unbehagen schlich in Schnauzis Miene. »Wenn ich dir, hnah, einen
Rat geben darf, Chef: Es zahlt sich nicht aus, solche Burschen zu
ermutigen…«
»Siehst du diese Streifen, Schnauzi? Bravo. Einen großen Tel er.«
Mumm trat mit seinem Tee auf den feuchten Hof, wo Nobby an der
Mauer lehnte.
Es gab Anzeichen dafür, dass ein sonniger Tag bevorstand. Nach dem
Regen der Nacht sol te manches wachsen, zum Beispiel der Flieder…
»Was ist los, Nobby?«
Nobby zögerte kurz, um festzustellen, ob eine Münze erschien. »Es
sieht überal ziemlich schlecht aus«, sagte er und gab es zunächst auf,
ohne die Hoffnung zu verlieren. »Im Hohen Schlag kam ein Gefreiter
ums Leben. Wurde von einem geworfenen Stein getroffen, heißt es. Bei
dem Kampf beim Schlummerhügel wurden jemandem die Ohren
abgeschnitten. Kaval eristen griffen an. Überal Aufruhr. Die
Wachhäuser bekamen den Zorn der Leute zu spüren…«
Mumm hörte bedrückt zu. Es war die übliche blutige Angelegenheit.
Zornige und ängstliche Leute auf beiden Seiten, von den Umständen
zusammengedrängt. Die Dinge spitzten sich zu. Der Schlummerhügel
und die Tol en Schwestern waren bereits Kriegsgebiete.
… nach oben fliegen die kleinen Engel, nach oben empor…
»Ist in der Ankertaugasse was passiert?«, fragte Mumm.
»Nicht viel«, erwiderte Nobby. »Nur einige wenige Leute fanden sich
dort ein, riefen etwas und liefen weg.«
»Verstehe«, brummte Mumm. So dumm war nicht einmal der Pöbel.
Bisher beschränkte sich die Sache noch auf junge Leute, Hitzköpfe und
Betrunkene, aber bestimmt wurde es bald schlimmer. Für einen Angriff
auf die Unaussprechlichen musste man geradezu außer sich sein vor
Zorn.
»Überal geschehen üble Dinge«, fuhr Nobby fort. »Nur hier nicht.
Wir sind von al dem nicht betroffen.«
Noch nicht, dachte Mumm. Aber vermutlich finden wir uns bald im
Zentrum der Entwicklung wieder.
Schnauzi kam durch die Hintertür des Wachhauses und trug einen
großen Teller mit Haferflockenbrei, in dem ein Löffel steckte. Mumm
nickte Nobby zu, und der Teller wurde mit sichtlichem Widerstreben
übergeben.
»Chef?«, fragte Schnauzi und behielt den Löffel im Auge, als Nobby
den Brei verschlang.
»Ja, Schnauzi?«
»Haben wir irgendwelche Befehle ?«
»Ich weiß nicht. Ist der Hauptmann da?«
»Komische Sache, Chef«, sagte Schnauzi. »Letzten Abend kam ein
Kurier mit einem Umschlag für den Hauptmann, und ich brachte ihn
nach oben, und dort wartete der Hauptmann, und da dachte ich,
komische Sache, haha, dachte ich, normalerweise ist er nicht so früh
da…«
»Schneller, Schnauzi«, sagte
Weitere Kostenlose Bücher