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Die Nadel.

Titel: Die Nadel. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follettl
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Fingern auf den Boden geglitten
     war. Sie hatte es als Kind bekommen und kannte auch alle Geschichten auswendig. Auf dem
     Deckblatt stand in der gestochenen Schrift ihrer Mutter: »Für Lucy zum vierten Geburtstag
     mit lieben Wünschen von Mutter und Vater.« Sie legte das Buch auf die Anrichte.
    Dann
     kam sie in die Küche zurück. »Er schläft.«
    »Und . . . ?«
    Lucy streckte
     die Hand aus. Henry ergriff sie. Sie zog sanft, und er stand auf. Nun führte sie ihn nach
     oben ins Schlafzimmer, schloß die Tür und zog sich den Pullover über den Kopf.
    Einen
     Moment lang stand er still und betrachtete ihre Brüste. Dann begann er sich auszuziehen.
    Während sie sich ins Bett legte, betete sie: Gib mir Kraft. Das war es, wovor sie sich
     gefürchtet hatte – vortäuschen zu müssen, daß ihr sein Körper Lust bereitete, obwohl
     sie nichts als Angst, Ekel und Schuld empfand.
    Er kam ins Bett und nahm sie in die
     Arme.
    Nach kurzer Zeit erkannte sie, daß sie nicht heucheln mußte.
    Ein paar Sekunden lang lag sie in seiner Armbeuge. Wie konnte ein Mann so
     kaltherzig morden und sich doch so liebevoll zeigen?
    Sie fragte: »Möchtest du eine
     Tasse Tee?«
    Er grinste. »Nein, danke.«
    »Aber ich.« Lucy löste sich von ihm
     und stand auf. Als er sich bewegte, legte sie die Hand auf seinen flachen Bauch und sagte:
     »Nein, du bleibst hier. Ich hole mir den Tee. Ich bin noch nicht mit dir fertig.«
    Er
     grinste wieder. »Du willst wohl nachholen, was du in den vier Jahren versäumt hast.«
    Sobald sie das Zimmer verlassen hatte, fiel das Lächeln wie eine Maske
     von ihrem Gesicht. Das Herz hämmerte in ihrer Brust, während sie nackt die Treppe
     hinunterlief. In der Küche knallte sie den Kessel auf den Herd und klapperte mit dem
     Porzellangeschirr, um ihn zu täuschen. Dann begann sie die Kleidung anzuziehen, die sie
     unter der nassen Wäsche versteckt hatte. Ihre Hände zitterten so sehr, daß sie kaum die
     Hose zuknöpfen konnte.
    Lucy hörte, wie das Bett oben knarrte. Sie blieb wie
     erstarrt stehen, lauschte und dachte: Bleib da! Aber er änderte nur seine Lage.
    Als
     sie fertig war, betrat sie das Wohnzimmer. Jo schlief tief und knirschte mit den
     Zähnen. Lieber Gott, laß ihn nicht aufwachen, betete Lucy. Sie hob ihn hoch. Er murmelte
     im Schlaf etwas über Christopher Robin, den Jungen aus Pu, der Bär . Lucy preßte
     die Augen zusammen und zwang ihn nur durch ihre Willenskraft, still zu sein.
    Sie
     wickelte die Decke fest um ihn. Dann ging sie zurück in die Küche und streckte die Hand
     nach der Flinte auf dem Küchenschrank aus. Die Waffe entglitt ihr, fiel auf das
     Schrankbrett und zerschmetterte einen Teller und zwei Tassen. Der Krach war
     ohrenbetäubend. Sie blieb wie angewurzelt stehen.
    »Was ist los?« rief Henry von
     oben.
    »Mir ist eine Tasse runtergefallen«, antwortete Lucy. Sie konnte das Beben
     in ihrer Stimme nicht unterdrücken.
    Das Bett knarrte wieder, und auf dem Fußboden
     der oberen Etage waren Schritte zu hören. Doch jetzt war es zu spät, den Plan
     rückgängig zu machen. Sie ergriff die Flinte, öffnete die Hintertür und rannte, Jo fest
     an sich gedrückt, hinüber zum Schuppen.
    Für einen Moment geriet sie in Panik:
     Hatte sie die Autoschlüssel stecken lassen? Bestimmt, das tat sie doch immer.
    Sie
     rutschte auf dem nassen Schlamm aus und fiel auf die Knie. Plötzlich brach sie in Tränen
     aus. Eine Sekunde lang war sie versucht zu bleiben, sich von ihm fangen und ermorden zulassen, wie er ihren Mann ermordet hatte. Dann dachte sie an das Kind in
     ihren Armen, und sie stand auf und lief weiter.
    Lucy betrat den Schuppen und
     öffnete die Beifahrertür des Geländewagens. Sie setzte Jo ab, doch er glitt zur
     Seite. Lucy schluchzte: »O Gott!« und setzte Jo wieder aufrecht hin. Diesmal blieb er
     sitzen. Sie rannte zur anderen Seite des Wagens, stieg ein und ließ die Flinte zwischen
     ihren Beinen auf den Boden fallen.
    Sie drehte den Zündschlüssel.
    Der Motor
     hustete und erstarb.
    »Bitte, bitte!«
    Sie drehte den Schlüssel noch
     einmal.
    Der Motor sprang donnernd an.
    Henry kam aus der Hintertür
     gerannt.
    Lucy ließ den Motor aufheulen und legte den Vorwärtsgang ein. Das Auto
     machte einen Satz aus dem Schuppen. Sie gab Vollgas, die Räder drehten einen Moment lang
     im Matsch durch, dann griffen sie wieder. Quälend langsam kam der Geländewagen auf
     Touren. Sie steuerte von Henry weg, aber er jagte barfüßig durch den

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