Die Nadel.
»Mein Zustand ist wieder normal.«
»Wie meinst du das?«
»Nach dem Baby. Mein Körper ist normal. Ich bin gesund.«
»Ach so! Das ist schön.« Und er rollte sich auf die andere Seite.
Sie sorgte dafür, daß sie immer gleichzeitig zu Bett gingen, damit er sie beim Ausziehen beobachten konnte, aber er wandte ihr immer den Rücken zu.
Während sie kurz vor dem Einnicken dalagen, bewegte sie sich oft so, daß ihre Hand oder ihr Schenkel oder ihre Brust ihn berührte – eine flüchtige, aber unmißverständliche Einladung. Er reagierte nicht.
Lucy war davon überzeugt, daß bei ihr alles stimmte. Sie war keine Nymphomanin; denn sie wollte nicht einfach Sex, sondem Sex mit David. Selbst wenn es einen anderen Mann unter siebzig auf der Insel gegeben hätte, wäre sie bestimmt nicht in Versuchung geraten. Sie war keine Dirne, die nach Sex gierte, sondern eine Ehefrau, die nach Liebe hungerte.
Der entscheidende Moment kam eines Nachts, als sie beide Seite an Seite hellwach auf dem Rücken lagen und auf den Wind und Jos leise Atemgeräusche aus dem Nebenzimmer lauschten. Es schien Lucy an der Zeit, daß er es tat oder geradeheraus sagte, warum nicht. Er würde sich um eine Entscheidung herumdrücken, wenn sie diese nicht erzwang. Vielleicht war es besser, sie sofort zu erzwingen, als noch länger so vor sich hin zu leben.
Sie fuhr also mit dem Arm über seine Schenkel, öffnete den Mund, um zu sprechen – und schrie vor Überraschung fast auf, als sie merkte, daß er eine Erektion hatte. Er war also dazu fähig! Und er wollte es auch, oder warum sonst . . . Ihre Hand schloß sich triumphierend um den Beweis seines Verlangens, sie rückte näher an ihn heran und seufzte: »David – «
»Um Gottes willen!« Er packte ihr Handgelenk, stieß ihre Hand von sich und drehte sich auf seine Seite.
Aber diesmal wollte sie seine Zurückweisung nicht mit demütigem Schweigen hinnehmen. »David, warum nicht?«
»Oh, verflucht!« Er schlug die Zudecke zurück, schwang sich auf den
Fußboden, ergriff die Daunendecke mit einer Hand und schleppte sich zur Tür.
Lucy
setzte sich im Bett auf und schrie ihn an: »Warum nicht?«
Jo begann zu weinen.
David zog die leeren Hosenbeine seines abgeschnittenen Pyjamas hoch, zeigte auf die
faltige weiße Haut seiner Stümpfe und erwiderte: »Deshalb nicht! Deshalb nicht!« Er
rutschte die Treppe hinunter, um auf dem Sofa zu schlafen. Lucy ging ins Nebenzimmer, um Jo
zu beruhigen.
Sie brauchte lange, um ihn wieder in den Schlaf zu wiegen,
wahrscheinlich weil sie selbst so sehr Trost benötigte. Das Baby schmeckte die Tränen auf
ihren Wangen, und sie fragte sich, ob es schon ihre Bedeutung ahnte: Gehörten Tränen denn
nicht zu den ersten Dingen, die ein Baby verstehen lernt? Sie brachte es nicht über sich,
ihm etwas vorzusingen oder ihm zuzuflüstern, daß alles in Ordnung sei. Sie drückte Jo
fest an sich und wiegte ihn hin und her, und als er sie mit seiner Wärme und seiner
Nähe beruhigt hatte, schlief er ein.
Sie legte ihn zurück in sein Kinderbett,
blieb stehen und betrachtete ihn eine Weile. Es hatte keinen Sinn, sich wieder
hinzulegen. Sie konnte Davids tiefes Schnarchen aus dem Wohnzimmer hören – er mußte
starke Tabletten nehmen, damit die ständigen Schmerzen ihn nicht wach hielten. Lucy mußte
fort, und sei es nur für ein paar Stunden, an einen Ort, wo sie ihn weder sehen noch
hören und wo er sie nicht finden konnte, wenn er wollte. Sie zog eine Hose und einen
Pullover, einen schweren Mantel und Stiefel an, schlich nach unten und hinaus in die
Nacht.
Draußen zogen Nebel über das Land, feucht und bitterkalt, wie es typisch
für die Insel war. Lucy schlug den Kragen ihres Mantels hoch, überlegte, ob sie wieder
zurückgehen und einen Schal holen sollte, entschied sich aber dagegen. Sie patschte den
schlammigen Pfad entlang und war froh darüber, daß der Nebelihr
beißend an die Kehle sprang. Das kleine Unbehagen, das vom Wetter verursacht wurde, lenkte
sie von dem größeren Schmerz in ihrem Innern ab.
Sie erreichte die Spitze der
Klippen und ging vorsichtig die steile, schmale Rampe hinab, indem sie die Füße fest auf
die glitschigen Bretter stellte. Unten sprang sie auf den Sand und stapfte zum Rand des
Meeres.
Der Wind und das Wasser fochten ihren ewigen Streit miteinander aus. Der
Wind fuhr von oben auf die Wellen herab, um sie zu foppen, und die See brandete zischend
und spritzend ans Ufer. Beide
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