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Die Nadel.

Titel: Die Nadel. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follettl
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sich mit Problemen zu befassen, denen er bisher ausgewichen
     war.
    Hamburg hatte alles darangesetzt, daß die Botschaft ihn sicher erreichte. Er
     hatte sein Rufzeichen gesendet, und statt mit dem üblichen »Verstanden – Fortfahren«
     hatten sie mit »Gehen Sie zu Rendezvous Eins« geantwortet.
    Er bestätigte den
     Befehl, übermittelte seinen Bericht und packte das Funkgerät wieder in den Koffer
     ein. Dann schob er sein Fahrrad aus dem Moor von Erith hinaus – er war als
     Vogelbeobachter getarnt – und erreichte die Straße nach Blackheath. Während er zu
     seiner engen Zweizimmerwohnung zurückfuhr, fragte er sich, ob er dem Befehl gehorchen
     solle.
    Zwei Gründe sprachen dagegen: ein professioneller und ein persönlicher.
    Der professionelle Grund bestand darin, daß »Rendezvous Eins« ein alter Code war, den
     Canaris schon 1937 eingeführt hatte. Er besagte, daß er an der Tür eines bestimmten
     Geschäfts zwischen Leicester Square und Piccadilly Circus einen anderen Agenten treffen
     solle. Beide würden einander daran erkennen, daß sie eine Bibel in der Hand hielten. Es
     würde dann zu einem im voraus festgelegten Wortwechsel kommen:
    »Welches Kapitel
     nehmen wir heute?«
    »Das erste Buch der Könige, Kapitel 13.«
    Wenn sie
     sicher waren, daß man sie nicht verfolgte, würden sie dann darin übereinstimmen, daß
     das Kapitel »most inspiring« – höchst erbaulich – sei. Andernfalls würde
     einer sagen: »Tut mir leid, ich habe es noch nicht gelesen.«
    Der Ladeneingang war
     vielleicht nicht mehr da, aber das beunruhigte Faber nicht. Er befürchtete, daß Canaris
     den Code wahrscheinlich an die meisten der tollpatschigen Amateure gegeben hatte, die den
     Kanal im Jahre 1940 überquert hatten und in den Armen des MI5 gelandet waren. Faber
     wußte, daß mansie erwischt hatte, da ihre Hinrichtung durch den Strang
     bekanntgegeben worden war – zweifellos, um die Öffentlichkeit zu überzeugen, daß etwas
     gegen die sogenannte Fünfte Kolonne unternommen wurde. Wahrscheinlich hatten sie alle vor
     dem Tod ihre Geheimnisse verraten, so daß die Briten den alten Rendezvouscode jetzt
     vermutlich kannten. Wenn sie den Funkspruch aus Hamburg abgefangen hatten, mußte der
     Geschäftseingang von höflichen jungen Engländern wimmeln, die Bibeln bei sich trugen
     und übten, »most inspiring« mit deutschem Akzent auszusprechen.
    Damals, in
     jenen berauschenden Tagen, als die Landung in England so nahe schien, hatte die Abwehr
     jeglichen Professionalismus in den Wind geschlagen. Seitdem traute Faber Hamburg nicht
     mehr. Er teilte ihnen nicht mit, wo er wohnte; er weigerte sich, mit anderen Agenten in
     Großbritannien Verbindung aufzunehmen; er änderte seine Sendefrequenz, ohne sich darum zu
     kümmern, ob er dabei die Kreise eines anderen störte.
    Wenn er seinen Vorgesetzten
     immer gehorcht hätte, wäre er nicht so lange am Leben geblieben.
    In Woolidge
     stießen viele Radfahrer zu Faber. Es waren Arbeiter, die am Ende der Tagschicht aus der
     Munitionsfabrik strömten. Ihre fröhliche Erschöpfung erinnerte Faber an seinen
     persönlichen Grund, weswegen er überlegte, den Befehl zu verweigern: Er glaubte, daß
     Deutschland dabei war, den Krieg zu verlieren. Jedenfalls konnten die Deutschen keine Siege
     vermelden. Die Russen und Amerikaner waren in den Krieg eingetreten, der Afrikafeldzug war
     gescheitert, die Italiener hatten kapituliert. Die Alliierten würden gewiß in diesem Jahr
     – 1944 – in Frankreich landen. Faber wollte sein Leben nicht sinnlos aufs Spiel
     setzen.
    Er kam nach Hause und stellte das Fahrrad ein. Während er sich das Gesicht
     wusch, wurde ihm klar, daß er aller Logik zum Trotz zu dem Treffen gehen wollte.
    Das war verrückt! Er begab sich für eine verlorene Sache in Gefahr, aber es juckte ihn
     einfach. Der Grund war, daß er sichunerträglich langweilte. Die
     Routinemeldungen, das Beobachten von Vögeln, das Fahrrad, das Essen in Pensionen – es
     war vier Jahre her, seit er etwas erlebt hatte, was entfernt an Aktion erinnerte. Er schien
     nicht im geringsten gefährdet zu sein, und das machte ihn nervös, weil er sich
     unsichtbare Bedrohungen einbildete. Am wohlsten fühlte er sich, wenn er eine wirkliche
     Bedrohung verspürte und konkrete Maßnahmen dagegen ergreifen konnte.
    Ja, er würde
     zu dem Treffen gehen. Aber nicht so, wie sich die Abwehr das vorstellte.
    Trotz des Krieges sah man noch viele Menschen auf den Straßen des
    

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