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Die Nadel.

Titel: Die Nadel. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follettl
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waren dazu verdammt, auf immer miteinander zu hadern.
    Lucy ließ sich von dem Lärm und dem Wetter betäuben. Sie schritt den steinigen Strand
     entlang, bis er jäh dort endete, wo das Wasser auf die Klippen traf. Hier machte sie
     kehrt. Die ganze Nacht hindurch ging sie am Strand auf und ab. Kurz vor der
     Morgendämmerung überkam es sie wie eine plötzliche Eingebung: Es ist seine Art, Stärke
     zu beweisen.
    Für sich allein genommen, war der Gedanke nicht sonderlich hilfreich,
     hielt er doch seine wahre Bedeutung wie in einer geschlossenen Faust verborgen. Also dachte
     sie eine Weile angestrengt nach, und, siehe da, die Faust öffnete sich, und es zeigte sich
     etwas, das wie eine kleine Perle der Weisheit war, die in einer Handfläche
     ruht. Vielleicht hatte alles miteinander zu tun: Davids Kälte ihr gegenüber, wie er sich
     auszog, wie er Bäume fällte, mit dem Geländewagen fuhr, mit den Keulen trainierte und
     daß er hierher gekommen war, auf eine kalte, grausame Insel in der Nordsee.
    Was
     hatte er gesagt? ». . . sein Vater, der Kriegsheld, ein beinloser Krüppel . . . « Er
     mußte etwas beweisen, etwas, das, in Worte gefaßt, abgedroschen klang – etwas, das er
     als Kampfflieger hätte tun können, aber nun mit Bäumen, Zäunen, Keulen und einem
     Rollstuhl tun mußte. Man hatte ihm die Prüfung verweigert, und er wollte sagen können:
     »Ich hätte sie sowieso bestanden, seht doch, wie ich leiden kann.«
    Es war von grausamer, hoffnungsloser, zum Himmel schreiender
     Ungerechtigkeit: Er hatte Mut gehabt, er hatte sich Verletzungen zugezogen, aber er konnte
     nicht stolz darauf sein. Wenn eine Messerschmidt ihn die Beine gekostet hätte, wäre der
     Rollstuhl wie ein Orden gewesen, wie eine Tapferkeitsmedaille. Doch jetzt würde er sein
     ganzes Leben lang sagen müssen: »Es war während des Krieges – nein, nicht im Kampf. Es
     war ein Autounfall. Ich hatte meine Ausbildung beendet und sollte am nächsten Tag
     kämpfen. Meine Mühle war eine Schönheit, ich hatte sie gesehen. Ich weiß, daß ich
     tapfer gewesen wäre . . . «
    Ja, so will er beweisen, wie stark er ist. Vielleicht
     konnte auch sie stark sein. Sie würde Möglichkeiten finden, das ramponierte Schiff ihres
     Lebens so weit zu reparieren, daß es wieder segeln würde. David war einmal gut und
     großzügig und liebevoll gewesen, und sie mußte nun lernen, geduldig zu warten, während
     er darum kämpfte, wieder ganz der Mann zu werden, der er früher gewesen war. Sie konnte
     neue Hoffnungen finden, neue Dinge, für die es sich zu leben lohnte. Andere Frauen hatten
     die Kraft aufgebracht, damit fertig zu werden, daß ihre Männer gefallen oder in
     Gefangenschaft geraten oder daß sie ausgebombt worden waren.
    Lucy hob einen
     Kieselstein auf, holte aus und schleuderte ihn mit aller Kraft hinaus aufs Meer. Sie sah
     oder hörte nicht, wie er aufschlug; er könnte seine Bahn ewig fortgesetzt haben und die
     Erde umkreisen wie ein Satellit in einer Weltraumgeschichte.
    Sie rief: »Ich kann
     auch stark sein!« Dann drehte sie sich um und ging langsam die Rampe hinauf zum Haus
     zurück. Es war fast Zeit, Jo zum erstenmal zu füttern.

ERSTER TEIL – KAPITEL 6
    s sah wie eine Villa
     aus. Im gewissen Sinne war es auch eine: ein großes Haus mit eigenem Park in dem
     Städtchen Wohldorf, einem Vorort im Grünen nördlich von Hamburg. Es hätte der Besitz
     eines Reeders, eines erfolgreichen Importeurs oder eines Industriellen sein können. In
     Wirklichkeit gehörte es der Abwehr.
    Sein Schicksal verdankte es dem Wetter –
     nicht dem hiesigen, sondern dem dreihundert Kilometer südöstlich in Berlin, wo die
     atmosphärischen Bedingungen für den Funkverkehr mit England nicht geeignet waren.
    Nur bis zum Erdgeschoß war es eine Villa. Darunter befanden sich zwei riesige
     Betonbunker und Funkgeräte im Wert von mehreren Millionen Reichsmark. Die elektronischen
     Anlagen waren von einem gewissen Major Werner Trautmann aufgebaut worden. Er hatte gute
     Arbeit geleistet. Jeder Bunker hatte zwanzig kleine, schalldichte Abhörkabinen, in denen
     Funker saßen, die einen Spion an der Art erkennen konnten, wie er seine Botschaft morste
     – so leicht, wie man die Handschrift der eigenen Mutter auf einem Briefumschlag
     erkennt.
    Beim Bau der Empfangsgeräte hatte man auf Qualität geachtet; denn die
     Geräte, mit denen die Nachrichten gesendet wurden, waren eher mit Blick auf Raumersparnis
     als auf Leistungsfähigkeit

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