Die Nadel.
waren dazu verdammt, auf immer miteinander zu hadern.
Lucy ließ sich von dem Lärm und dem Wetter betäuben. Sie schritt den steinigen Strand
entlang, bis er jäh dort endete, wo das Wasser auf die Klippen traf. Hier machte sie
kehrt. Die ganze Nacht hindurch ging sie am Strand auf und ab. Kurz vor der
Morgendämmerung überkam es sie wie eine plötzliche Eingebung: Es ist seine Art, Stärke
zu beweisen.
Für sich allein genommen, war der Gedanke nicht sonderlich hilfreich,
hielt er doch seine wahre Bedeutung wie in einer geschlossenen Faust verborgen. Also dachte
sie eine Weile angestrengt nach, und, siehe da, die Faust öffnete sich, und es zeigte sich
etwas, das wie eine kleine Perle der Weisheit war, die in einer Handfläche
ruht. Vielleicht hatte alles miteinander zu tun: Davids Kälte ihr gegenüber, wie er sich
auszog, wie er Bäume fällte, mit dem Geländewagen fuhr, mit den Keulen trainierte und
daß er hierher gekommen war, auf eine kalte, grausame Insel in der Nordsee.
Was
hatte er gesagt? ». . . sein Vater, der Kriegsheld, ein beinloser Krüppel . . . « Er
mußte etwas beweisen, etwas, das, in Worte gefaßt, abgedroschen klang – etwas, das er
als Kampfflieger hätte tun können, aber nun mit Bäumen, Zäunen, Keulen und einem
Rollstuhl tun mußte. Man hatte ihm die Prüfung verweigert, und er wollte sagen können:
»Ich hätte sie sowieso bestanden, seht doch, wie ich leiden kann.«
Es war von grausamer, hoffnungsloser, zum Himmel schreiender
Ungerechtigkeit: Er hatte Mut gehabt, er hatte sich Verletzungen zugezogen, aber er konnte
nicht stolz darauf sein. Wenn eine Messerschmidt ihn die Beine gekostet hätte, wäre der
Rollstuhl wie ein Orden gewesen, wie eine Tapferkeitsmedaille. Doch jetzt würde er sein
ganzes Leben lang sagen müssen: »Es war während des Krieges – nein, nicht im Kampf. Es
war ein Autounfall. Ich hatte meine Ausbildung beendet und sollte am nächsten Tag
kämpfen. Meine Mühle war eine Schönheit, ich hatte sie gesehen. Ich weiß, daß ich
tapfer gewesen wäre . . . «
Ja, so will er beweisen, wie stark er ist. Vielleicht
konnte auch sie stark sein. Sie würde Möglichkeiten finden, das ramponierte Schiff ihres
Lebens so weit zu reparieren, daß es wieder segeln würde. David war einmal gut und
großzügig und liebevoll gewesen, und sie mußte nun lernen, geduldig zu warten, während
er darum kämpfte, wieder ganz der Mann zu werden, der er früher gewesen war. Sie konnte
neue Hoffnungen finden, neue Dinge, für die es sich zu leben lohnte. Andere Frauen hatten
die Kraft aufgebracht, damit fertig zu werden, daß ihre Männer gefallen oder in
Gefangenschaft geraten oder daß sie ausgebombt worden waren.
Lucy hob einen
Kieselstein auf, holte aus und schleuderte ihn mit aller Kraft hinaus aufs Meer. Sie sah
oder hörte nicht, wie er aufschlug; er könnte seine Bahn ewig fortgesetzt haben und die
Erde umkreisen wie ein Satellit in einer Weltraumgeschichte.
Sie rief: »Ich kann
auch stark sein!« Dann drehte sie sich um und ging langsam die Rampe hinauf zum Haus
zurück. Es war fast Zeit, Jo zum erstenmal zu füttern.
ERSTER TEIL – KAPITEL 6
s sah wie eine Villa
aus. Im gewissen Sinne war es auch eine: ein großes Haus mit eigenem Park in dem
Städtchen Wohldorf, einem Vorort im Grünen nördlich von Hamburg. Es hätte der Besitz
eines Reeders, eines erfolgreichen Importeurs oder eines Industriellen sein können. In
Wirklichkeit gehörte es der Abwehr.
Sein Schicksal verdankte es dem Wetter –
nicht dem hiesigen, sondern dem dreihundert Kilometer südöstlich in Berlin, wo die
atmosphärischen Bedingungen für den Funkverkehr mit England nicht geeignet waren.
Nur bis zum Erdgeschoß war es eine Villa. Darunter befanden sich zwei riesige
Betonbunker und Funkgeräte im Wert von mehreren Millionen Reichsmark. Die elektronischen
Anlagen waren von einem gewissen Major Werner Trautmann aufgebaut worden. Er hatte gute
Arbeit geleistet. Jeder Bunker hatte zwanzig kleine, schalldichte Abhörkabinen, in denen
Funker saßen, die einen Spion an der Art erkennen konnten, wie er seine Botschaft morste
– so leicht, wie man die Handschrift der eigenen Mutter auf einem Briefumschlag
erkennt.
Beim Bau der Empfangsgeräte hatte man auf Qualität geachtet; denn die
Geräte, mit denen die Nachrichten gesendet wurden, waren eher mit Blick auf Raumersparnis
als auf Leistungsfähigkeit
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